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Titel1720

Hohlraumkonservierung  (Harald Kretzschmar)

Wir suchen nach bildhaftem Ausdruck für das, was wir erkennen. Da besteht doch kein Mangel – welch ergiebige Wortkombinationen liegen da zur Verfügung bereit! Als die Autos noch rostempfindlicher und die Winter noch rostschaffender waren, haben wir mit einer chemischen Substanz die Hohlräume unserer Fahrzeuge gegen Rost immun gemacht. Schützenswerte Freiräume sind jedoch anderswo ebenfalls vorsorglicher Beachtung wert. Und wenn es sogar im eigenen Kopf sein könnte?

 

Etwa bei der auf die Verarbeitung aktueller Reize ausgerichteten Hirnsphäre. Nachweisbar ist sie gewissen Stimmungen schwankender Dichte ausgesetzt. Da kann es schon geschehen, dass irgendein Aufreger des Tages aufgepustet bis zum Gehtnichtmehr Überdehnungen normalen Nachdenkverhaltens verursacht. In blasenförmigen Wucherungen können dann von Sinn und Vernunft entleerte Hohlräume entstehen. Diese werden sogar unter ungünstigen Umständen über ganze Lebensabschnitte konserviert. Man spricht dann von Hohlraumversiegelung. Die Ränder zu Vorurteilen verfestigt, greift kaum eine Chance zur Veränderung Platz. Wer noch versucht, zu Einsicht und Umdenken zu mahnen, steht auf verlorenem Posten.

 

Das ist insofern mehr als bedauerlich, als es die Gefahr des Eindringens radikaler Parolen und Signale begünstigt. Eine solche Gedankenleere entblößt die selbstkritische Wahrnehmung so sehr, dass völlig unreflektierte Schlagworte sich zu geistigen Brandsätzen zu verklumpen vermögen. Die Gefahr besteht, dass der Hirnbesitzer fortan sein übliches Intelligenzniveau öfter unterschreitet, als ihm lieb sein dürfte. Die häufig beklagte Orientierungslosigkeit unter den Menschen mag dadurch zusätzlich befördert werden. Mitten in der Atmosphäre einer gepflegten Gleichgültigkeit mit eigentlich unmotivierten politischen Wutausbrüchen auffällig zu werden – keine Kleinigkeit. Auf einmal in Mikrofone und Kameras seltsamen Wortsalat abzusondern, das verwundert schon ein wenig.

 

Wenn einmal die Vernunft weitgehend suspendiert ist, gibt es Verrücktheiten am laufenden Band. Viele von uns sind heute noch nie in unserer Mitte lebenden Juden begegnet, und trotzdem werden diese zum Ziel von Attacken. Doch bei Menschen, die weit davon entfernt sind, in die Hassklischees der Nazis zu verfallen, wird fix ein angeblich tief wurzelnder Antisemitismus diagnostiziert, wenn sie Kritik an israelischer Regierungspolitik üben. Das kommt schon wieder aus einer anderen Luftblase: Unfähig zu differenzieren, werden kritische Fragen mit einer gleichlautend abweisenden Wortwahl übergangen. Doch die beste Methode, mit Horrorszenarien und Verschwörungstheorien fertig zu werden, ist ihre Rückführung auf die eigentliche Substanz. Geistige Fehlstellen sind mit Argumenten zu füllen.

 

Pseudo-Argumente ziehen nicht. Identitäre Erklärungsmuster sind in der Regel von erstaunlich altertümelnd anmaßender Diktion. Fundamentalistische Rechthaberei ist quer durch die Kommentare spürbar. Verbale Entgleisungen kommen so gut wie immer von einer Seite: Nur Rechts garantiert eine Ausschließlichkeit des Machtanspruchs, der überhaupt keine diskursive Bescheidenheit kennt. Aus der Entstehungszeit im Milieu der Zeit des Deutschen Reiches – stockkonservativ und präfaschistisch – weht der Mief der Gewalttätigkeit herüber.

 

Das Raffinierte: Sie wecken ein auf gespenstische Weise fatal abgewertetes Nationalgefühl, welches legitim an deutscher Sprache und deutscher Kunst festmacht. Daher im Grunde der verwunderliche Grad an Zustimmung bei Leuten, denen man jede Menge Vernunft zutraut. Doch vergessen wir nicht, welche enormen Wissenslücken bei vielen klaffen. Das eben ist eine Frage der politischen Bildung. Man beachtet kaum, wodurch diese behindert wird. Unter dem Schutt platter Werbestrategien und blödelnder Unterhaltung geht der beste Geist am Ende verschütt. Wer gibt sich noch Mühe, die Kriegsgründe von anno dunnemals aufzuspüren, die als Vorwand für heutige Konflikte dienen? Ununterbrochen werden Feindbilder abenteuerlicher Tendenz reproduziert. Stichworte wie »Hitler-Stalin-Pakt« oder »SED-Regime« sind eben leider unteres Niveau – wie »Endlösung«, »Blitzkrieg« und »Annexion« blindlings Konfrontation reproduzierend.

 

»Relativierung« wird dann wie »Objektivität« ein ungebräuchliches Fremdwort. Selbst den Begriff »Rassismus« sollten wir eher lächerlich machen, als nur wütend seinen sämtlichen Verästelungen nachzuspüren. Hunde werden nach Rassen eingeteilt. Das ist auf Menschen doch nicht übertragbar. Oder kennt, wer wagt, von »Untermenschen« zu sprechen, so etwas wie »Unterhunde«? Und die überbordende Lobpreisung von legitim »queer« lebenden Mitmenschen sollte monogam und heterosexuell Orientierte nicht zu sehr in Verlegenheit versetzen. Manche Redensarten klingen zu hohl, um unbedingt zum Füllen von geistigen Hohlräumen zu dienen.