Man fährt wieder Bus in São Paulo. Und zwar die Mittelklasse, die noch vor kurzem schwerlich einen der hoffnungslos überfüllten und klapprigen »Christenverfolger« dem eigenen Wagen vorgezogen hätte. Das Wunder ist geschehen: Moderne, abgasarme Omnibusse rollen zügig auf einer exklusiven Fahrspur; der Privatverkehr steht im Stau. Die Errungenschaft ist zwei mehr oder weniger linken Oberbürgermeisterinnen zu verdanken, die mit der Korruption der privaten »Busmafia« im öffentlichen Transportwesen aufgeräumt haben.
Per Handzeichen stoppe ich ein dreigliedriges, 28 Meter langes Ungetüm und stolpere in das vordere Abteil mit wenigen Sitz-, aber vielen Stehplätzen. Da über sechzig – man sieht es mir an – fahre ich zum Nulltarif und muß nicht durch das Drehkreuz, wo Jüngere vom Schaffner abkassiert und zu den Sitzbänken weiter hinten durchgelassen werden.
Vorne sind alle Plätze besetzt, ein paar Leute stehen. Auch ein jüngerer Mann, lässig, selbstsicher, in Vorstadt-Chic. Er spricht mit einigen Frauen, die ergeben zu ihm aufblicken. Wegwerfend, beinahe gnädig läßt er die Worte fallen. Die Frauen lauschen: Da hat einer was zu sagen, einer, der es geschafft hat, auch wenn ihn die Sprache verrät. Einer aus derselben armen Peripherie wie seine Zuhörerinnen.
Als er den Mittsechziger wahrnimmt, hält er kurz inne. Ein lässiger Fingerzeig, und eine Frau von etwa Fünfzig springt auf und bietet mir ihren Sitzplatz an. Verwirrt und dankend lehne ich ab, werde aber sofort beschieden: »O senhor senta – por favor« (»Sie setzen sich – bitte!«). Der Platzhirsch spricht. Sein »bitte« duldet keinen Widerspruch. Die Frau drückt mich in den Sitz; der Diskurs geht weiter.
Ich vernehme »satanás« und »demônio« – ja, es geht um den Teufel, den Satan als solchen. Dieser stecke nun mal in allem, man müsse sich vorsehen. Exempel aus Fußball und Berufsleben folgen. Der da doziert, ist ein »pastor«, wie sich die evangelikalen Sektenprediger titulieren, die inzwischen die Wege von etwa 35 der 198 Millionen Brasilianer beeinflussen, wenn nicht leiten. Ich erwarte weitere einschlägige Beispiele, einen Hinweis etwa auf Präsident Lula, der gerade den Weg zum weiteren Kahlschlag Amazoniens geebnet hat, oder eine Anspielung auf die Korruptionsskandale im Senat oder wenigstens eine Schelte des Ex-Bischofs und paraguayischen Staatschefs Fernando Lugo wegen seiner außer-zölibatären Kinder. Nichts dergleichen.
Die Frauen haben ihre Bibel dabei, in der üblichen Schutzhülle mit Reißverschluß. Ihr Austausch mit dieser Welt ist ähnlich abgeschottet. Der Alltag zwischen Arbeit, Heim und der Gebetshalle wird von dem Prediger und den mehr als 400 evangelikalen Radio- und Fernsehstationen bestimmt. Ihr Pastor bezieht mindestens 4000 Reais (1500 Euro), seine Schäflein kaum ein Fünftel dessen. In Schnellkursen kann man sich zum Pastor ausbilden lassen, falls stimmgewaltig auch zum Bischof (Gehalt 10.000 Reais).
Der Schaffner hört mit und sucht Blickkontakt zu mir. Er ist unsicher, ob er sich ein Lächeln gestatten darf – vielleicht macht der Alte den Anfang. Tue ich aber nicht, bin inzwischen anderweitig interessiert:
Etwas weiter vorn nämlich, in braunen Kutten und bebrillt, zwei Franziskaner, blutjung, im intensiven Gespräch mit einer sympathischen Oma, die sich einen Platz auf dem Radkasten ergattert hat. Dem wadenlangen Kleid und schulterlangen Haar nach ebenfalls eine »crente« (gläubige Evangelikale). Sie hat das satanische Thema aufgeschnappt und will es nun genau wissen: Wenn es keinen Teufel gäbe, wären dann Gott und Gottessohn überhaupt vonnöten? Oder umgekehrt, wenn wir einen Gott und Jesus haben wollen, brauchen wir ja auch den Teufel, und damit – die Franziskaner schauen betreten – könnte Jesus eigentlich so gut der Sohn Gottes wie der Sohn des Teufels sein. Denn beide seien doch unerläßlich. Sonst hätte der Heiland ja nichts zu tun.
Sie insistiert gegenüber den dreimal jüngeren Fachleuten, bleibt aber liebenswürdig. Nach soviel Dialektik bin ich ebenso baff wie die Jungs in der Kutte. Der eine blickt zu Boden, der andere riskiert beherzt die Antwort: So könne man das doch nicht sehen. Langatmig versucht er das zu begründen. Die Großmutter schüttelt den Kopf, der besorgte Blick des Fahrers erscheint im Rückspiegel, während der junge Mönch ausführt, Gott sei schließlich wichtiger als der Teufel und überhaupt ...
Aber der Bus hält, und die Mönche müssen aussteigen. Ein freundlicher Händedruck den Besiegten. Die Ketzerin gibt ihnen ein »vai com deus« mit (»Geh’ mit Gott!«) – nach bestem brasilianischem Herkommen, höflich und herzlich bis zuletzt. Der Schaffner lächelt nachdenklich in seine Kasse; die übrigen Fahrgäste blicken unbeeindruckt nach draußen oder in ihr Handy. Ein paar Jüngere studieren fotokopierte Lehrbücher; viele besuchen nach der Arbeit die Abendkurse der Schule oder einer Fakultät. Die Älteren sind eingenickt oder lesen ein Groschenblatt, auf den Titelseiten lediglich Sport oder Hinweise für den Eintritt in den öffentlichen Dienst.
Ich blicke von einem zum andern und überlege, was wohl ihre wirklichen Ängste sind. Daß unser Lateinamerika neuerlich vom US-Imperium angegangen wird? Daß in Honduras neue Strategien gegen Venezuela, Bolivien und Ekuador getestet werden? Daß mittlerweile sieben US-amerikanische Militärbasen allein in Kolumbien beschlossene Sache sind? Daß Brasilien zunehmend von den »congress men« angeschwärzt wird, weil es nicht Partei gegen Hugo Chávez Frias oder Evo Morales ergreift? Aber nein, vor solchen Ängsten bewahrt sie das Fernsehen, für viele die einzige Informationsquelle, mit Einlull- und Schrottprogrammen ganz wie in den USA und Europa.
Auch das Huhn im Topf: Das Leben der ärmeren Brasilianer hat sich verbessert. Brasilien ist von der in New York arrangierten Krise verschont geblieben. Einstweilen. Der Arbeitsmarkt wächst. Die Welt investiert in Brasilien, das sich als internationaler Partner sieht – »auf Augenhöhe« mit wem auch immer. Noch überleben die Brasilianer ohne die induzierten Dauerängste ihrer nordamerikanischen Antipoden. Und da muß eben der Teufel her, »satanás«. Die Sekten investieren in ihn. Die Villen ihrer Oberhäupter stehen in Miami.
Ich steige aus. Auch eine weitere Angehörige des Mittelstands. Anscheinend will sie zur selben Bank wie ich. Ich lasse ihr den Vortritt an der Drehtür. Sie dankt, bekreuzigt sich und tritt ein.