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Titel1809

Kubas »Operation Wunder«  (Gaby Weber)

El Alto liegt auf der Hochebene des Altiplano, auf 4.100 Metern. Auch im Sommer wird es kaum wärmer als zehn Grad. Eine Million Menschen leben in dem Ballungsraum: Hausangestellte, die tagsüber in La Paz, im Talkessel, putzen und kochen, Handwerker, Gelegenheitsarbeiter und Straßenhändler. Fast alle sind indianischer Herkunft.

Über dem Eingang zu einem unscheinbaren Gebäude steht auf einem Schild: »Operación Milagros«, und es wird erklärt daß es sich bei der »Operation Wunder« um eine »Kooperation Kuba und Bolivien« handelt. Hier behandeln kubanische Augenärzte, finanziert mit Geldern der venezolanischen Regierung. El Alto ist das größte Krankenhaus der »Operación Milagros«.

»Hierher kommen nicht nur Bolivianer«, sagt Janet Valdéz, Koordinatorin der Operation Wunder, »In unseren Kliniken in Villazón und Yacuiba, an der Grenze zu Argentinien, behandeln wir Argentinier, in Copacabana am Tititaca-See Peruaner.« Weltweit wurden bisher 1,5 Millionen Patienten behandelt. Gratis.

Seit Juli 2004 schickt die Regierung in Havanna Augenärzte nach Pakistan, Portugal, Haiti, Venezuela, Argentinien, Paraguay und Bolivien. Sie verstehen sich nicht als Entwicklungshelfer, sondern als »Internacionalistas«. In Bolivien hat Che Guevara gekämpft, dort ist er gefallen.

Die Internationalisten halten das, was die reichen Länder als »Entwicklungshilfe« in die Dritte Welt schicken, für nicht geeignet, um die Armut zu überwinden. Deren Hilfe diene eher dazu, bestehende Ungerechtigkeiten zu zementieren.

Zur Überwindung der Armut hatte US-Präsident John F. Kennedy die »Allianz für den Fortschritt« gegründet. So wollte er, kurz nach der kubanischen Revolution, den Aufständischen das Wasser abgraben. Im August 1961 wurde die »Allianz« feierlich ins Leben gerufen: In ganz Südamerika, von Nordamerika als Hinterhof betrachtet, sollten US-Entwicklungshelfer Brunnen bohren und Straßen bauen.

Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Washington schickt nicht mehr Heerscharen von Entwicklungshelfern zu den armen Vettern im Süden. Diese erhalten Hilfe aus einem Land, das selbst arm ist: Kuba entsendet nicht nur Lehrer zum Alphabetisieren, sondern auch Ärzte – vor allem nach Bolivien, ins Herz Südamerikas. Dort startete die Mission im August 2005. Während der ersten Etappe wurden die Kranken zur Behandlung nach Kuba geflogen, insgesamt 3.000 Bolivianer innerhalb weniger Monate. Das war auf Dauer zu kostspielig. Man suchte für die Ärzte einen Platz in Bolivien. Ab November 2005 begannen sie, in der Nationalen Augenklinik in La Paz zu operieren.

Im Dezember 2005 gewannen Evo Morales und seine »Bewegung für den Sozialismus« (MAS) die Wahlen. Nun erhielten die Kubaner volle Unterstützung. Das »Wunder« nahm seinen Lauf. Heute verfügt die »Operación Milagros« in Bolivien über 18 Augenkliniken mit zwanzig Operationstischen. Im Landesinneren sind drei »mobile Operationseinheiten« im Einsatz, eine von ihnen, im Tiefland, nennt sich nach einer Mitstreiterin Che Guevaras »Tania – la Guerrillera«.

In der Klinik in El Alto – die Luftwaffe hat das Gebäude zur Verfügung gestellt – werden täglich bis zu zweihundert Patienten operiert. Langsam füllt sich der Wartesaal. Mich erwartet die Leiterin Odalys Cruz Rodriguez, eine 44-jährige gelernte Krankenpflegerin. Zur Begrüßung bekomme ich ein Küßchen, hier duzen sich alle. Odalys fühlt sich in Bolivien wohl, sagt sie, es gibt keine Verständigungsschwierigkeiten. Spanisch ist Landessprache. Ob sie einem Ruf nach Pakistan gefolgt wäre, wo die Operación Milagros ebenfalls tätig ist? Sie guckt erschreckt: »Das wäre schwieriger«, nicht nur wegen der Sprache. Die Gleichberechtigung der Frau ist eines der wichtigsten Ziele der kubanischen Revolution. Ob sie als berufstätige und geschiedene Frau in Pakistan respektiert würde? »Aber«, sagt sie, »wenn man mich geschickt hätte, wäre ich gegangen. Wir Kubaner passen uns an.«

Vor einem Pult warten sieben Patienten. Ein Krankenpfleger notiert ihre Namen, Adresse, Beruf, Beschwerden. Er fragt, ob der Patient in Begleitung gekommen ist oder ob die Klinik ihn nach Hause fahren soll. Jeder erhält ein Aktenzeichen. Danach warten sie im Flur, vor den Behandlungsräumen, bis sie aufgerufen werden.

Behandelt wird alles, was dem Auge passieren kann: Pterygium, ein bösartiges Wachstum der Bindehaut, sowie Fleischwucherungen am Auge, Fehlsichtigkeit, Katarakt (den grauen Star), Glaukom (den grünen Star), Linsentrübung, Gerstenkorn, Sehnerv-Schädigung, Farbenblindheit und Veränderungen am Augapfel. »Wir behandeln chirurgisch oder medikamentös. Oft entfernen wir Gegenstände, gerade war ein Zimmermann hier, dem beim Hobeln einen Holzsplitter ins Auge geraten war.«

In der Abteilung Optometrie wird der Augendruck gemessen und in den Augenhintergrund geschaut. Die Geräte stammen aus Deutschland und Italien. Eine Tür führt zur Terrasse, die durch eine Mauer vom Kasernenhof der Luftwaffe abgetrennt ist.

Der Klinik sind drei Ärztebrigaden angeschlossen, die aus je sechzehn bis zwanzig Ärzten bestehen. Zu einer dieser Brigaden gehört Leonardo, 28 Jahre alt, der sich zu uns gesellt. Der Allgemeinmediziner arbeitet eng mit den Nachbarschaftskomitees in den Dörfern zusammen, die ihren Bürgern von den Kubanern erzählt haben. Er ist mit einigen Patienten gekommen, die in El Alto behandelt werden sollen. Was macht der junge Mann in seiner Freizeit auf dem kargen Altiplano? Sehnt er sich nicht nach Salsa, Rum und dem Fieber der Karibik? An die Kälte habe er sich gewöhnt, aber die Höhe macht ihm zu schaffen. Anfangs war er immer müde, und ihm wurde leicht schwindelig.

Odalys öffnet die Tür zur Herzabteilung. Vor einer Staroperation wird ein Elektrokardiogramm erstellt. Die Tür der Apotheke knarrt. In den Regalen stapeln sich Medikamente, Brillengestelle, Gläser. Das Reich Eva-Marias, der Pharmazeutin. Sie verteilt Augentropfen, Antibiotika, Schmerzmittel. »Viele Bolivianer sprechen kein Spanisch, nur Aymara. Aber irgendwie klappt es.«

Einmal im Jahr hat jeder Internationalist vier Wochen Urlaub – den verbringt er bei seiner Familie. Private Kontakte zu Einheimischen sind selten, man bleibt am Wochenende unter Kollegen.

Sind Beziehungen zu Bolivianern unerwünscht oder gar verboten? »Sie sind erlaubt, aber sie haben ihren Preis. Niemand verbietet uns Beziehungen mit Bolivianern«, so die Klinikleiterin. »Erlaubt schon, aber schwierig. Denn deine Familie ist in Kuba«, ergänzt die Apothekerin.

Die Erinnerung an die DDR liegt nahe, an das, was man dort »Republikflucht« nannte. Eine Ausreise aus Kuba ist mit ermüdenden Behördengängen verbunden, das Flugticket muß jemand aus dem Ausland bezahlen. Verboten ist die Ausreise nicht, aber die Regierung in Havanna will ihre Leute, in deren Ausbildung sie viel investiert hat, halten. Deshalb reist ein Internationalist alleine aus, seine Familie bleibt zurück. »Aus unserer Klinik ist niemand desertiert«, sagt Odalys. Sie weiß von anderen Deserteuren, will aber über das heikle Thema nicht weiter reden.

Der spektakulärste Fall hat sich in Uruguay ereignet. Dort wollte die linksliberale Regierung, die Frente Amplio (Breite Front), die kubanischen Augenärzte zunächst gar nicht ins Land lassen. Sie stand unter dem Druck der Ärztekammer, die darauf pochte, daß das kleine Land über genügend eigene Mediziner verfüge. Abschlüsse der kubanischen Universitäten wurden nicht anerkannt. Lange wurde verhandelt, bis wenigstens die Examen der uruguayischen Stipendiaten in Kuba anerkannt wurden. Erst seit 2007 gilt das für alle medizinischen Titel aus Kuba. Das war die Voraussetzung, damit die »Operation Wunder« unter uruguayischer Leitung ihre Arbeit aufnehmen konnte.

Im Team von »Operación Milagros« arbeitete Vladimir Villamil. Er wollte in Montevideo bleiben und als Augenarzt arbeiten. Er wandte sich an die konservative Nationale Partei, erklärte öffentlich, er wolle nicht zurück ins »Reich des Diktators Castro« – so der Abtrünnige –, und erhielt politisches Asyl. Frau und Kinder ließ er in Kuba zurück.

In Bolivien ist die Situation anders. Erstens ist das bitter arme Land weniger attraktiv als Uruguay. Und La Paz erkennt die Abschlüsse der Kubaner nicht an. Man läßt sie in ihren Kliniken und in der Brigade arbeiten, erteilt aber den Ärzten keine Zulassung, sagt Odalys. »Wir dürfen keine medizinischen Atteste oder Gutachten ausstellen.« Wie das im Einzelnen gehandhabt werde, wisse sie nicht.

Sie will sich nicht den Mund verbrennen. Auch über die Finanzen redet sie nicht. »Wunder« müssen finanziert, Medikamente importiert, Unterkünfte, Essen und Gehälter bezahlt werden. Für all das müßte gesorgt sein. Eigentlich. Doch die kubanischen Ärzte erhalten seit Monaten kein Gehalt mehr. Dies ist in La Paz ein offenes Geheimnis. Es in ein Mikrophon zu sprechen, könnte Unannehmlichkeiten nach sich ziehen.

Als die Regierungen in Caracas und Havanna vor fünf Jahren die Operación Milagros ins Leben gerufen hatten, schickte Hugo Chávez Erdöl zu Vorzugspreisen oder geschenkt auf die »rote Insel«. Dafür sollten kubanische Ärzte in den Hinterhöfen dieser Welt Kranke heilen. Doch im letzten Jahr fiel der Ölpreis drastisch, und Chávez‘ Kassen sind leer. Das bekommt die »Operation Wunder« zu spüren. Venezuela hat angekündigt, daß es Kuba nicht weiter subventionieren kann. Und Havanna kann die Löcher nicht aus eigener Kraft stopfen. Die kubanische Volkswirtschaft wächst nur um zwei Prozent statt, wie geplant, um sechs. Die Hurrikane haben viel zerstört, der Weltmarktpreis für den Hauptexportartikel Nickel ist im Keller, und der Tourismus hat nachgelassen, weil die Urlauber sparen müssen. Vier Fünftel aller Lebensmittel werden importiert, es fehlt Energie.

Frage an Janet, die Koordinatorin der Operación Milagros, woher ihr Gehalt kommt. »Ich weiß es nicht genau, aber unser Lohn kommt aus Kuba. Wie das genau läuft und auf welche Konten gezahlt wird, weiß ich nicht. Da mußt du mit Leuten reden, die besser informiert sind.«

Janet kann oder will auch nicht sagen, welche Rechtsform die Augenklinik in El Alto besitzt. Ist sie eine öffentliche oder private, eine bolivianische oder eine kubanische Einrichtung? Wer ist verantwortlich, wenn etwas schief geht und Regreßforderungen gestellt werden? »Wir sind völlig legal«, meint Janet. Das Wort »illegal« hatte ich gar nicht benutzt.

Janet wechselt das Thema. Sie druckt eine Statistik aus. 2006: 51.000 in Bolivien operierte Patienten. 2007: 145.000 Patienten. 2008, trotz monatelanger Unterbrechung: 120.000. Bis April 2009: 60.000. Einschließlich der ausgeflogenen Patienten ergibt das in weniger als fünf Jahren eine Bilanz von 386.597 Patienten.

Nahezu 400.000 Behandlungen – dafür haben die Internacionalistas nicht nur Beifall geerntet. Die niedergelassenen bolivianischen Ärzte fürchten um ihre Pfründe, obwohl zu den Kubanern hauptsächlich die Mittellosen gehen, keine zahlenden Patienten. Die Ärztekammer störte sich an Grundsätzlichem: daran, daß die Operation Wunder vor Augen führt, daß Gesundheitsfürsorge ein Menschenrecht ist, das auch für Arme gilt, und daß dieses Menschenrecht keine Utopie, sondern realisierbar ist.

»Das Verhältnis zur Ärztekammer war nicht das beste«, gibt Janet zu. Aber die Regierung von Evo Morales unterstützt die Operation Wunder. Die regionalen Behörden des Tieflands dagegen stehen ihr feindlich gegenüber, vor allem die des Departments Santa Cruz, das sich gerne von den armen Indios des Hochlandes abspalten würde. Im Tiefland ist die Situation explosiv. Organisationen, die sich um die indigenen Völker kümmern und als »regierungsnah« gelten, sind mit Brandanschlägen angegriffen worden. Die Kubaner werden verdächtigt, nicht nur mit Augentropfen, sondern auch mit Waffen zu hantieren. Die Beschuldigungen wurden bisher durch nichts belegt, aber Fidel Castro gilt als Freund der »Indios«, und das reicht. Während in El Alto die Türen von »Operación Milagros« weit offen stehen, muß sich ihre Klinik in Santa Cruz schützen. Die Situation in Santa Cruz sei »schwierig«, so die Koordinatorin.

Sie zeigt auf eine Landkarte an der Wand. Auf ihr stecken Fähnchen und Punkte. Fähnchen für die Kliniken, Punkte für die mobilen Behandlungseinheiten. Viele Kliniken befinden sich in Grenznähe, wo Menschen aus den Nachbarländern behandelt werden.

Was sie nicht sagt: Die Nachbarn sehen das nicht nur als Hilfe. Die konservative Regierung in Lima, die ohnehin mit Evo Morales verfeindet ist, spricht von »Einmischung in die internen Angelegenheiten Perus«. Auch die argentinische und die brasilianische Regierung betrachten die Kliniken mit gemischten Gefühlen. Einerseits stehen Lula da Silva und Cristina Fernández ihrem Amtskollegen Morales ideologisch näher, sie suchen nach gemeinsamen Lösungen. In den Grenzregionen sind Ärzte rar, sowohl im argentinischen Altiplano als auch an der Grenze nach Brasilien. Im kaum besiedelten Urwald sind für die Waldbewohner die kubanischen Krankenstationen oft die einzige Rettung. Deshalb protestieren Brasilia und Buenos Aires nicht gegen den Grenzverkehr. Aber glücklich sind sie damit nicht. Denn trotz aller Bekundungen von »regionaler Integration« denken sie in den engen Kategorien des Nationalstaates. Innerhalb dieser Logik sind sie und kein anderer Staat, auch kein »Internacionalista« für die Versorgung ihrer Bürger zuständig. Das medizinische Engagement der Kubaner führt ihnen das eigene Unvermögen vor die Augen. Deshalb haben die Argentinier die Operation Wunder erst nach langem Zögern erlaubt, in Córdoba, unter dem Dach eines argentinischen Hospitals, zu behandeln. Es waren nicht nur die Berufsverbände, die Konkurrenz verhindern wollten. Auch von links kam der Einwand, daß Argentinien selbst in der Lage sei, Star zu operieren, und daß das kubanische Konzept auch nicht weniger paternalistisch als das der USA sei.

Deren »Allianz für den Fortschritt« gehört längst der Vergangenheit an. Washington hat den Wettstreit um den besseren Weg zur Armutsbekämpfung in Südamerika eindeutig verloren. Die USA seien vom Geber von Entwicklungshilfe zum Nehmer geworden – glaubte die Regierung in Havanna und wollte nach der Hurrikan-Katastrophe »Katrina« Ärzte nach New Orleans schicken. Das kubanische Fernsehen verbreitete die Bilder von abflugbereiten »Internacionalistas« in weißen Kitteln. Wie zu erwarten war, verweigerte das State Department die Visa. Aber viel mehr hat Washington der Operation Wunder nicht entgegen zu setzen. In Paraguay rief die US-Botschaft vor zwei Jahren das Programm »Laß dich zu Hause sicher operieren« ins Leben. Die US-Firma Alcon spendete dem Ärzte-Verband in Asunción Linsen und Operationsbestecke im Wert von 10.300 Dollar. Damit konnten 30 Patienten am grauen Star operiert werden. Den Gesamtbetrag der Spenden bezifferte die US-Botschaft auf 53.900 Dollar. Ausreichend für 160 Operationen. So viele finden täglich in El Alto statt, in einer der 18 kubanischen Augenkliniken in Bolivien.