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Titel1809

Berliner Theaterspaziergänge  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

Auf dem Wege zur Schaubühne – nur dreimal in diesem Jahr – geht mir durch den Sinn, daß ich mir früher in diesem Haus keine Inszenierung entgehen ließ. Was hat sich geändert? Meine Erwartungen. Sie sind nach vielen Enttäuschungen längst nicht mehr so groß wie einst. Über Ibsens »John Gabriel Borkmann« habe ich schon geschrieben. Nun sehe ich Yael Ronens »Dritte Generation« und Marius von Mayenburgs »Der Häßliche«.

Ich gehöre noch zur ersten Generation. Als einer der geschlagenen Überlebenden habe ich Schwierigkeiten mit Themen wie der »Dritten Generation«. Ich versuche, objektiv zu sein – kann ich das? Das Stück, für das die israelische Autorin und Regisseurin ihren Namen gab, ist gemeinsam mit israelischen, palästinensischen und deutschen Schauspielern eben dieser dritten Generation erarbeitet worden, eine Co-Produktion mit dem Habimah-Theater in Tel Aviv. In die Auseinandersetzung mit der Shoah mischt sich auch der Nahost-Konflikt. Alle sind beteiligt – und alles relativiert sich. Eine der Hauptfiguren heißt Bormann – muß das sein? Der Name eines der Hauptverbrecher des Nazi-Regimes für einen tumben Toren? Der überreichliche Relativismus ist eine Schwäche des Stückes. Dramatische Figuren sollen zwar eigene Standpunkte haben, aber wenn sie alle auch am Ende Recht haben, bleibt zynischer Wirrwarr – trotz aller Leidenschaft, aller guten Lieder, des großen Themas. Dennoch: An dem Stück könnte und sollte weitergearbeitet werden, damit dramatischer Dialog entsteht, der den gesellschaftlichen anregt und fördert.

Dem schweren Brocken folgt ein allzu leichter. In Mayenburgs »Der Häßliche« geht es um Körperveränderung durch Schönheitsoperationen unter der Fragestellung: Wie lebe ich besser als schöner Mensch? Ein unendlich banales Thema, das aber Dimensionen bekommen könnte: Was sollen die chirurgischen Eingriffe bewirken, wie weit sollen oder dürfen sie gehen? Der Schönheitsbegriff ist relativ, verschieden von Person zu Person, von Nation zu Nation, von Generation zu Generation, abhängig von Bildung, Medien, Mode. Im Stück weiß keiner, was Schönheit ist, und alle reden darüber. Eindeutig ist nur das Geschäft jener Mediziner, die solche teuren Eingriffe vornehmen. Dürfen nur Reiche »schön« sein? Auch das wird nicht thematisiert. Ein grausiges Stück. Obendrein langweilig.

Noch seltener betrat ich in letzter Zeit das Berliner Ensemble. Schaue ich mir den Spielplan an, stelle ich fest, daß ich das weitaus meiste schon gesehen und auch erörtert habe. Neu waren »Shakespeares Sonette«. Was erwartete mich da?

Peter Hacks hat Theater einmal »Schmiere« genannt, und er meinte es grundsätzlich, obgleich die meisten seiner eigenen Stücke auf die Bühne kamen und einige von ihnen häufig gespielt wurden. Ich widersprach damals heftig, aber inzwischen hätte ich einige Gründe, dem Meister Abbitte zu tun. Das heutige Theater bemüht sich geradezu, seine These zu beweisen. Das reicht von »Vögel«- und »Möven«-Flügen ganz nah am schmutzigen Boden bis zu »Gemetzel-Göttern« und »Rummelplätzen« und schließlich – ich traue mich kaum, es zu sagen – zu der Kühnheit, auch die beinahe schönsten Gedichte der Weltliteratur zu Markte zu tragen: Shakespeares Sonette als Schmiere. Wer hätte das gedacht, namentlich von Robert Wilson, der mich zwar immer uninspiriert ließ, aber unbestreitbar auch Neues einbrachte; niemals habe ich ihm Formbewußtsein abgesprochen. Und nun das. Die erotischsten Gedichte, die man sich vorstellen kann, Wilson serviert sie trocken wie Knäckebrot und motzt sie mit allerlei Mätzchen auf. Dazu gibt es einen jämmerlichen Musikmix aus Kaffeehaus, etwas Schönberg und Pop von Wainwright, süß, aber nicht von Zucker, sondern von Sacharin.

Auch im Deutschen Theater war ich nur dreimal. Thomas Jonigks Stück »Donna Davison« – über einen Popstar und Penislängen – kann man schlicht vergessen. So banales Zeug im DT – da müßten doch die großen Regisseure und Theaterleiter von Brahm und Reinhardt bis Langhoff sich verabschieden und von ihren Sockeln steigen. Leider sind es Brust-Skulpturen, ohne Beine zum Herabklettern.

Etwas von gehobener Art: Arthur Schnitzlers »Der einsame Weg« von 1903/04. Bürgerliche Lebensverhältnisse in Unordnung und Auflösung, freilich auf österreichische Art, traurig, doch mit Charme. Wegrat kann nicht mit Gebriele, ihre Kinder Felix und Johanna können auch nicht mit ihr, Julian nicht mit Felix, mit gar keinem Stephan Sala – höchst intelligent gespielt von Ullrich Matthes in der Spannung zwischen Figur-Sein, Darstellen und Zeigen. Nachdem andere Aufführungen mich über den Niedergang der Schauspielkunst in diesem Hause haben erschrecken lassen, das doch lange Zeit die Hohe Schule dieser Kunst gewesen war, erglänzt hier noch einmal einiges davon: Jörg Gudzuhn und Barbara Schnitzler als die Wegrats, Ernst Stötzner als Julian Fichtner, Almut Zilcher als Irene Herms. Aber wie einsam sie sind, die da einsame Menschen darzustellen haben! Frierend in der eiskalten Luft dieser Gesellschaft. Christian Petzold führt eher unauffällig Regie, was nach Jahrzehnten eines aufdringlichen, unsensiblen Regie-Terrorismus angenehm auffällt. Trotz mancher Anachronismen, die offenbar auf Widersprüche zielen: im Ganzen überzeugend.

Was man ganz und gar nicht von Tschechows »Möve« sagen kann. Der totgeschossene Vogel auf der Bühne ist die einzige ehrliche Metapher für diese ganze Inszenierung. Oder soll ich die Risse an der Decke, notdürftig mit einem Brett vernagelt, dazurechnen? Wie kann man Tschechow so barbarisieren, diesen stillen und übergenauen Autor, Dichter, Arzt, Diagnostiker, Therapeut? Warum müssen die, die er geistig miteinander ringen läßt, sich hier prügeln wie Fischweiber auf dem Markt? Das Stück wurde im DT oft aufgeführt, zuletzt 1980 inszeniert von Wolfgang Heinz mit einem Glanzensemble, zu dem Katia Paryla und Jutta Wachowiak, Fred Düren, Jürgen Hentsch und Dietrich Körner gehörten. Der Vergleich macht schmerzhaft klar, wie tief die Kunst in diesem Haus gesunken ist. Corinna Harfouch spielt die Arkadina wie bei Kohlhiesels Töchtern oder bei Hempels in der Küche, und angezogen sind die Figuren wie bei Bolle in der Eckkneipe. Ist der Kostüm-Fundus schon so knapp bei Kasse? Überzeugt haben mich nur zwei Personen: Peter Pagel als Dorn, freilich eine Art Leitrolle mit Katalysatoren-Aufgabe, die dem Spieler viele Möglichkeiten bietet. Und Christian Grashof als Sorin, der hat einen sozialen Gestus, da merkt man noch die alte Schule.

In einer Berliner Zeitung lese ich die Schlagzeile: »Finale – Eine Ära geht zu Ende«. Nein, da geht ein schwacher Intendant, der einem ebenso schwachen Verwaltungsbürokraten als Intendant nachgefolgt war. Früher war dieses Haus fast immer von tonangebenden Künstlern geleitet worden: Nach Otto Brahm und Max Reinhardt kamen Heinz Hilpert, Gustav von Wangenheim, Wolfgang Langhoff, Wolfgang Heinz, unterstützt von Benno Besson, Thomas Langhoff, Dieter Mann. Innovatorisch wirkte das DT schon seit Jahrzehnten nicht mehr (diese Funktion war 1948/49 an das Berliner Ensemble, 20 Jahre später an die Schaubühne übergegangen), aber es war eben zur Hohen Schule der Schauspielkunst geworden, wie man sie außerdem nur noch am Burgtheater Wien fand und findet.

In den letzen Jahren gab es keine Zäsur mehr, die eine Ära markiert hätte. Nur Niedergang.