Ingeborg Bachmann hat es gewußt: »Denn die Zikaden waren einmal Menschen. Sie hörten auf zu essen, zu trinken und zu lieben, um immerfort singen zu können.« Sie wurden dünner und kleiner und verzaubert, »aber auch verdammt, weil ihre Stimmen unmenschlich geworden sind«. So der Schluß ihres Hörspiels von 1955. Solch eine Geschichte über Zikaden wird auch am Ende des dreiteiligen Stücks »Hot Pepper, Air Conditioner and the Farewell Speech« erzählt, das der junge japanische Autor und Regisseur Toshiki Okada in Hamburg auf Kampnagel mit seiner Gruppe »Chelfitsch« aufführt. Unmenschliche Stimmen? Es sind Menschen, die ihre Sprache verloren haben. Sie sagen Sätze auf, die sie sich vom Fernsehen entleihen – Sätze, die sich wie in einem Laufkäfig für Hamster drehen.
Auf der kahlen Bühne sitzen drei Schauspieler auf harten Stühlen um einen Bürotisch, schweigen sich an. Ihre Kollegin Erika soll entlassen werden, und sie haben zugesagt, ihr ein Abschiedsessen zu geben. Warum sie als Leiharbeiter die Organisation übernehmen? Das wäre doch die Sache der Festangestellten. Aber »wir kümmern uns darum«, bestätigen sie sich immer wieder. Merkwürdig gestelzte Bewegungen begleiten ihre Überlegungen, wohin man gehen soll. Und hat Erika nicht einmal gesagt, ihr schmecke »Motsunabe«? Das ist ein Eintopf aus Innereien und Därmen. Das Schwierigste ist das Budget. Da ist dieses Gericht willkommen, das im Fernsehen angepriesen wurde. Es soll »total gesund« sein, auch gegen Arthrose. »Hot Pepper« heißt der erste Teil, und das ist auch der Titel einer kostenlosen Werbezeitschrift, die Anregungen für Restaurantbesuche gibt. Immer wieder wedelt der Kollege mit dem Blatt. Die pantomimischen Verrenkungen zeigen das, was nicht gesagt oder nur angedeutet wird: die Angst. daß sie die nächsten sein werden, die es trifft. »Warum wurde Erika noch vor uns gekündigt?«
Der zweite Teil, »Air Conditioner«, führt zwei Festangestellte vor. Die Frau klagt über die Kälte im Raum: Irgendwer stelle die Klimaanlage immer wieder auf 23 Grad, sie brauche aber 28 Grad. Sie zupft den Rock herunter, versucht sich selbst zu wärmen. Ihr Kollege merkt nichts. Er gibt meist nur »eh, eh« von sich wie ein Tier und hält sich an seinem Schlips fest wie ein Ertrinkender. Aber er bedauert sie auch mal: »Die Frauen, die tun mir total leid, die sind arm dran.« Das sagt er so dahin und macht alberne Bewegungen. Sie sagt: »Immer wenn ich im Büro bin, wird mir total kalt.« Er faselt von einer Talk-Show im Fernsehen. Er lerne immer »total viel davon«.
Im dritten Teil, »Farewell Speech«, kommt Erika dazu und hält ihre Abschiedsrede, erzählt, wie dieser Tag ablief, wie sie sich anzog für die Firma, das letzte Mal ihre schwarzen Pumps putzte. Sie gibt den Schuhen ein Eigenleben, sieht zwei Pinguine darin. Gefährten ihrer Einsamkeit. Sie steht den Kollegen gegenüber. Zwei Jahre habe sie hier gearbeitet. Sie macht gemessene Bewegungen, höflich. Sehr schön sei der Arbeitsplatz gewesen, die Kollegen sehr nett. Sie sei dankbar. Ob sie überhaupt noch einmal so glücklich sein werde im Leben? Dann erzählt sie von den Zikaden, die sie schon am Morgen hörte. Die so schrecklich laut schrien. Als sie die Tür öffnete, lag da eine halbtote Zikade. Hatte sie draufgetreten? Ihre Körperbewegungen: ein Tanz als Ausweichversuch. Sie stellt sich vor, wie sie abends nach Hause komme, in keinem guten Zustand, die Kündigung in der Tasche. Dann liege da die tote Zikade. Ein Kater aus der Nachbarschaft soll helfen und das Tierchen fressen. Alles wagt sie zu erzählen – sie kommt ja nie wieder hierher. Und sie denkt an eine Kollegin, die ihr mit dem letzten Rest Spülmittel für den Spülschwamm aushalf, als sie ihr Geschirr nicht säubern konnte – »total nett« sei das gewesen, erinnert sie sich. Sie erhält ein kleines Geschenk, bedankt sich.
Der letzte Satz, von den anderen gesprochen: »Wir werden jetzt über kurz oder lang nachkommen.«
Das Japanische wurde ins Deutsche übertragen. Aber die Situation ist die gleiche. Man verstand und spendete viel Beifall.