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Titel1810

Die vier Witwen unseres Freundes  (Wolfgang Helfritsch)

Neulich, um die Julimitte herum, hatte unser Freund Alfredo wieder mal Geburtstag. Er hat immer um die Julimitte herum Geburtstag, genauer gesagt, am 12. Juli, und es möge noch recht lange so bleiben. Das wünschen wir ihm und uns.

Alfredo ist eine tragende Bühnenfigur in unserem Theaterverein, dem Karlshorster Zimmertheater. Er trägt nicht nur die vorgeschriebenen Requisiten gekonnt über die Bühne, er füllt letztere auch mit seinen Rollen aus.

Alfredo hat ein ganzes Künstlerleben lang auf den Brettern gestanden, gespielt und getanzt und gesungen, und als Artist hat er die halbe Welt bereist. Ihm kann man nichts vormachen, er weiß Bescheid. Und er bringt es so überzeugend rüber, daß Widerspruch oder Besserwisserei nie aufkommen können.

Zu seinem Wiegenfest hat er allerdings ein etwas gestörtes Verhältnis. Er wird nicht gern älter – wer wird das schon! Ihm ist es am liebsten, wenn keiner seiner Kollegen davon Notiz nimmt. Aber nun wurde er 75, und in dieser Alterskategorie gehört es sich schon, daß man ihm gratuliert.

Erleichtert wurde mir die Sache dadurch, daß ich nur einen Monat jünger bin. Ich finde mich aber damit ab und nehme mich selbst auf die Schippe, indem ich allen erzähle, daß ich – von Natur aus nicht gerade mit ansehnlicher Körperhöhe ausgestattet – von Jahr zu Jahr einen Zentimeter kleiner werde, mir also genau ausrechnen könne, wann ich von der Bildfläche verschwunden sei. Diese Art von Humor geht allerdings vielen ab, unter anderem Alfredo.

Immerhin, er empfing uns. Der Jubilar kehrte bei unserem Eintreffen gerade von einer Besorgung zurück und wurde von seinem Dackel herzlich und schweifwedelnd begrüßt. Das war eine günstige Konstellation, denn wir konnten uns unauffällig in das Zeremoniell einmischen.

Alfredo empfing uns freundlich, bat uns an seinen Gartentisch und versorgte uns mit Getränken.

Nachdem wir unsere ehrlich gemeinten Glückwünsche ausgesprochen hatten, wurde der Gesundheitszustand des Jubilars erörtert und seine fortschreitende Arthrose mit Bedauern zur Kenntnis genommen. Da wir das mit altersgerechten Äquivalenten überbieten konnten, hielt sich alles im Rahmen. Danach wurden der Vereinsknatsch und die große Politik bedient. Nach einer reichlichen Stunde waren die verbindlichen Themen abgehandelt, und die Pferde scharrten vernehmlich mit den Hufen.

Fast schon im Abgang fragten wir Alfredo, ob er noch mit hohen Staatsbesuchern aus Partei, Regierung oder Bankvorständen rechne, aber er meinte, die könnten ihm gestohlen bleiben. Der einzige Besuch, den er zur Kaffeestunde mit Freude erwarte, seien seine vier Witwen.

Diese Ankündigung brachte uns ins Grübeln, denn unseres Wissens war Alfredo vor seiner gegenwärtig anhaltenden Ehe nie verheiratet gewesen, und die Erwähnung seiner Witwen war überhaupt nicht zu verstehen. Alfredo bemerkte unser Erstaunen und erklärte uns bereitwillig, die vier Witwen seien die hinterbliebenen Ehefrauen seiner älteren Brüder, die den Krieg und die Nachkriegsjahre nicht überlebt hatten.

Der älteste war gleich 1939, wenige Wochen nach der Kriegserklärung durch Nazi-Deutschland, in Polen gefallen. Der zweite »verteidigte« Deutschland in Stalingrad; von ihm fehlt jede Spur. Der dritte wurde noch in den letzten Kriegstagen rekrutiert, starb bei den Kämpfen um Berlin und wurde namenlos auf dem Soldatenfriedhof Halbe verscharrt. Der letzte der Brüder überstand – wie Alfredo auch – den Krieg, erlernte den Beruf eines Kraftfahrers und kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben.

Seitdem klingeln an jedem Geburtstag vier Witwen an seiner Wohnungstür, und ein oder zwei Nachmittagsstunden sind der Erinnerung und dem Austausch über die gegenwärtigen Lebensumstände vorbehalten. Wir schieden mit dem Wunsch, daß es ihm, seiner Frau und den vier Witwen noch lange vergönnt bleibt, sich regelmäßig zu treffen.

Und unseren Kindern wünschten wir, daß ihnen solche Treffen erspart bleiben.

In diesem Text macht Wolfgang Helfritsch diskret auf seinen eigenen halbrunden Geburtstag aufmerksam, zu dem wir ihm hiermit herzlich gratulieren. Als Ossietzky-Autor ist er von Jahr zu Jahr mindestens einen Zentimeter größer geworden.

Red.