Bei der Bundeswehr sollte Jürgen Grässlin während der Grundausbildung zwischen die Augen von Pappkameraden zielen, die, wie ihm auffiel, aussahen wie Chinesen. Er verweigerte sich und wurde Rüstungsgegner – »Deutschlands bekanntester Rüstungsgegner« (Die Zeit). Beruflich unterrichtet er seit 1982 als Realschullehrer Deutsch, Geografie und Kunst in Freiburg (Breisgau); daneben arbeitet er »mit beeindruckender Energie und Unermüdlichkeit für den Frieden, vor allem für Verbote von Rüstungsproduktion und -exporten«, wie es in der Begründung für die Verleihung des diesjährigen Aachener Friedenspreises an Jürgen Grässlin heißt.
Was das gerade hierzulande bedeutet, zeigt das »Ranking« auf dem internationalen Militärmarkt: Deutschland ist der größte Rüstungsexporteur Europas und der drittgrößte weltweit hinter den USA und Rußland, vor Großbritannien, Frankreich und China. Die deutschen Exporte von Kriegswaffen und Rüstungsgütern haben sich seit 2005 sogar verdoppelt. Zu den Empfängern zählen auch Staaten in Konflikt- und Kriegsregionen des Nahen und Mittleren Ostens sowie diktatorische Regime etwa in Afrika, Asien oder Lateinamerika. Die skandalösen Genehmigungen durch den Bundessicherheitsrat, die den eigenen menschen- und völkerrechtlichen Grundsätzen zuwiderlaufen, zeigen, wie überaus aktuell, wie brisant diese Problematik ist – aber auch wie existentiell für die Betroffenen, wie verhängnisvoll für Oppositionelle, für Demokratie- und Menschenrechtsbewegungen in den jeweiligen Zielländern.
»Rüstungsexporte sind wegen ihrer riesigen Opferzahlen der schlimmste Auswuchs deutscher Außen- und Wirtschaftspolitik. Wir laden massiv Schuld auf uns. Das läßt sich in einer Gesellschaft mit unseren Werten nicht rechtfertigen«, so mahnt Jürgen Grässlin. Er ist Autor zahlreicher Sachbücher über Rüstungs-, Militär- und Wirtschaftspolitik und hat sich dabei auch intensiv mit dem Daimler-Konzern beschäftigt, der über seine Beteiligung an der multinationalen Waffenschmiede EADS auch an Rüstungsproduktion und -handel maßgeblich beteiligt ist.
Jürgen Grässlin sitzt aber nicht nur am heimischen Schreibtisch in Freiburg, schreibt Bücher oder referiert in geschützten Räumen über seine Erkenntnisse, er reist auch in ferne Länder, wo Menschen zu Opfern deutscher Kleinwaffen werden, dorthin, wo Verletzte und Hinterbliebene zu finden sind – etwa nach Türkisch-Kurdistan, wo Waffen aus Deutschland gegen die kurdische Zivilbevölkerung eingesetzt werden, oder nach Somalia, wo mit dem G3-Gewehr Massaker angerichtet wurden. In Somalia besuchte er Flüchtlingslager und Behindertenanstalten, ging auch voller Entsetzen über Massengräber, aus denen Knochen und Schädel ragten. Er führte beklemmende Interviews mit mehr als 220 Überlebenden des Einsatzes von »Kleinwaffen« made in Germany – den »Massenvernichtungswaffen unserer Zeit«, wie er Mörser, Maschinenpistolen und -Gewehre nennt. Denn »zwei von drei Opfern sterben in Kriegen und Bürgerkriegen durch den Einsatz von Gewehren.« Fast alle Überlebenden, mit denen er sprach, seien schwer traumatisiert, viele seien verstümmelt und vertrieben, hätten Mütter und Väter, Geschwister und Kinder verloren. Aus diesen entsetzlichen Einblicken, die ihn selbst verändert haben, entstand sein Buch »Versteck Dich, wenn sie schießen« – sein »Herzensbuch«, wie er sagt, das den namenlosen Opfern deutscher Waffenpräzision Gesicht und Stimme geben soll. Man fühlt sich dabei an Paul Celans »Todesfuge« erinnert: »Der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau er trifft dich mit bleierner Kugel, er trifft dich genau.«
Und kehrt Jürgen Grässlin von solchen Erkundungsreisen zurück nach Deutschland, dann nennt er die Verantwortlichen für Waffenproduktion und Rüstungsexporte offen mit Namen und Adresse: so etwa die Heckler & Koch GmbH, »Deutschlands tödlichstes Unternehmen«, wie Grässlin die Waffenschmiede im schwäbischen Oberndorf am Neckar bezeichnet, wo zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb, also »weit ab vom Schuß«, ein Großteil jener rund zehn Millionen Waffen produziert wurde, die bis heute nach Grässlins Berechnungen mehr als anderthalb Millionen Menschen getötet und weit mehr noch verstümmelt haben.
Diese Schreckensbilanz einer zerstörerischen Wachstumsbranche ist mit dem wohlfeilen Arbeitsplatzargument keineswegs zu rechtfertigen – denn auf jeden Arbeitsplatz in diesem Unternehmen kommen über die Jahre viele Tote und weit mehr Verstümmelte – lauter »Weichziele«, wie die menschlichen Waffenopfer in der hauseigenen Werbung heißen.
Nicht allein die Produzenten und Händler des Todes, so Jürgen Grässlin, auch die Bundesregierung mit ihrer Export-Genehmigungspraxis trägt Mitschuld an den verheerenden Folgen: daran, daß auch Folterstaaten ganz legal mit deutschen Waffen versorgt werden. Alle Bundesregierungen, gleich welcher Couleur, schürten mit ihren keiner demokratischen Kontrolle unterliegenden Genehmigungen von Waffentransfers an Diktaturen, an korrupte Regime oder lupenreine Scheindemokraten die Eskalation von Gewalt in Kriegs- und Krisenregionen weltweit und nahmen dabei Vertreibung, Elend und Tod billigend in Kauf – aus geostrategischen Erwägungen, im Namen von »Sicherheit und Stabilität«, zur Sicherung von Rohstoffen und zur Flüchtlingsabwehr. Im Klartext lautet die Anklage: Beihilfe zu schweren Menschenrechtsverletzungen, zu Massen- und Völkermord.
Doch Grässlin gibt sich mit Aufklären und Anprangern längst nicht mehr zufrieden: Seit vielen Jahren setzt er sich zusammen mit anderen aktiv für konkrete Schritte zur Abrüstung ein: als Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen, als Sprecher der Kritischen AktionärInnen Daimler, als Sprecher des Deutschen Aktionsnetzes »Kleinwaffen stoppen«, das den Opfern in aller Welt Stimme und Gesicht geben will. Denn, so unser Preisträger: »Wer Rüstungsexporte mit den Augen der Opfer sieht, wird sich für eine andere Außen-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik einsetzen.«
Jürgen Grässlin möchte in der Waffenschmiede Deutschland etwas bewegen und verändern; dafür initiiert er auch phantasievolle Protestaktionen vor und in Rüstungsbetrieben, organisiert Hilfsprojekte für Waffenopfer, zuletzt die Kampagne »Aktion Aufschrei: Stoppt den Waffenhandel!«. Grässlin ist also im besten Sinne auch Friedensaktivist. Als kritischer Aktionär der Daimler AG brandmarkt er während der jährlichen Hauptversammlungen die Exporte ganzer Waffensysteme an menschenrechtsverletzende und kriegführende Staaten – zumeist mit beachtlichem Medienecho. Legendär sind seine Worte in der vollbesetzten Schleyerhalle in Stuttgart, die er dem ehemaligen Daimler-Vorstandsvorsitzenden entgegenschleuderte: »Herr Schrempp, an Ihren Händen klebt das Blut unzähliger Toter.« Doch sein mutiges Engagement ist auch mit einem hohen Preis verbunden: Wer sich mit Waffenkonzernen anlegt, wird hierzulande zwar nicht erschossen, muß aber gehörige Einschüchterungsversuche gewärtigen. So jedenfalls ist der nervenzehrende Versuch der Daimler AG und ihrer Vorsitzenden Zetsche und Schrempp zu werten, Grässlin mit juristischen Mitteln einen Maulkorb zu verpassen, ihn also mundtot zu machen und finanziell zu ruinieren. Dieser Versuch ist glücklicherweise gescheitert, weil der Bundesgerichtshof 2009 der Meinungsfreiheit doch noch zum Sieg verhalf. Jürgen Grässlin ist trotz solcher Risiken und Gefahren diesen beschwerlichen Weg gegangen. Wünschen wir ihm weiterhin viel Kraft und Energie und vor allem Erfolg.
*
Jürgen Grässlin ist in diesem Jahr nicht der einzige Träger des Aachener Friedenspreises. Mit ihm wurde am 1. September, dem Antikriegstag, die Informationsstelle Militarisierung e.V. ausgezeichnet, eine 1996 gegründete antimilitaristische Denkfabrik, die laut Satzung den Zweck verfolgt, »aktive Beiträge zur Verbreitung des Gedankens der Völkerverständigung zu leisten und friedliche Konfliktmöglichkeiten zu fördern«. Die Mitglieder des gemeinnützigen Vereins verstehen sich als Mittler zwischen kritischer Friedensforschung und Friedensbewegung. IMI liefert fundierte Hintergrund-Informationen, wissenschaftliche Analysen und Einschätzungen, die für die Friedensbewegung wichtig und nutzbar sind. Zu dem Themenspektrum ihrer Informations- und Bildungsarbeit sowie ihrer jährlichen Kongresse in Tübingen gehören: Friedens- und Konfliktforschung, Rüstung und Rüstungsexporte, Umstrukturierung der Bundeswehr, Militarisierung der Bundesrepublik und in Europa, NATO und Flüchtlingspolitik – oder besser: Flüchtlingsabwehrpolitik der »Festung Europa«, die jedes Jahr zahlreiche Tote fordert. Zur deutschen Beteiligung an Angriffskriegen, zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren und zum Abbau der Bürger- und Menschenrechte im Zuge des staatlichen Antiterrorkampfes nimmt IMI eine wohltuend klare, kritisch-ablehnende Haltung ein. Die Hauptarbeit leisten ehrenamtlich der Politologe Michael Haid, die Religionswissenschaftlerin und Soziologin Claudia Haydt, Vorstandsmitglied Christoph Marischka, der langjährige Abgeordnete des Europäischen Parlaments, Tobias Pflüger, sowie Andreas Seifert und das geschäftsführende Vorstandsmitglied Jürgen Wagner.
Deutschland hat der Devise »Nie wieder Krieg!« längst abgeschworen und sich selbst an völkerrechtswidrigen Angriffskriegen beteiligt – direkt wie gegen Jugoslawien und Afghanistan oder aber indirekt. Die Bundeswehr wandelt sich zur global agierenden Interventionsarmee – obwohl ein solches Mandat mit dem Verteidigungsbegriff des Artikels 87a Grundgesetz nicht vereinbar ist. Dort heißt es immer noch unmißverständlich: »Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.« Doch auch jene Bundesregierungen, die die Beteiligung an einer »Koalition der Willigen« ablehnten – sei es im Irak oder jüngst in Libyen –, zeigen sich gegenüber der NATO und den USA dennoch willfährig: Mit Waffenlieferungen, Überflugrechten, Aufklärungsflügen und Logistikhilfe leisten sie tatkräftige Unterstützung und Beihilfe zu völkerrechtswidrigen Kriegen mit ihren verheerenden Folgen. Völkerrechtswidrig handelt auch der Staat, der den militärischen Aggressor in seinem völkerrechtswidrigen Tun unterstützt.
Man kann es nicht kürzer und treffender ausdrücken: Krieg ist Terror. Auch Antiterrorkriege sind Terror – auch wenn sie zu »friedensstabilisierenden« oder »humanitären Interventionen« verklärt, im Namen der Sicherheit und Freiheit geführt, zur Rettung der Menschenrechte hochstilisiert werden. Sie produzieren letztlich das, was sie bekämpfen sollen, nämlich Krieg und weiteren Terror. Sie töten, verletzen und schänden unschuldige Zivilisten, stehen in krassem Widerspruch zu Menschenrechten und Gerechtigkeit, die sich genauso wenig herbeibomben lassen wie Freiheit und Demokratie.
»Der Krieg beginnt hier – also laßt ihn uns hier stoppen!« Nach diesem Motto setzt sich IMI – über reine Aufklärung hinaus – zum Ziel, auch die zivilgesellschaftliche Gegenwehr, den Widerstand gegen die Militarisierung von Außen- und Innenpolitik, von Staat und Gesellschaft, mit Informationen und eigenen Analysen zu unterfüttern und damit zu unterstützen. Der Verein beteiligt sich folgerichtig an bundesweiten Bündnissen und Kampagnen – so gegen Indoktrinierungs- und Rekrutierungsversuche der Bundeswehr an Schulen und Universitäten sowie gegen Militär- und Rüstungsforschung an Hochschulen; und der Verein beteiligt sich auch an gewaltfreien Protesten, so etwa gegen die jährliche NATO-Sicherheitskonferenz in München.
Daß diese gebrauchsorientierte Aufklärungsarbeit überaus notwendig ist und auch von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wird, erfahren die IMI-Mitarbeiter fast täglich. Aber sie mußten auch erfahren, daß dies von anderer Seite offenbar nicht so gern gesehen und geduldet wird. Wiederholt kam es gegen IMI und einzelne Mitarbeiter zu mehr oder weniger offenen Repressionsmaßnahmen. So sah sich etwa IMI-Vorstandsmitglied Tobias Pflüger einem Strafprozeß wegen Aufrufs zur Desertion ausgesetzt, weil er deutsche Soldaten dazu aufgefordert hatte, ihre Beteiligung am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien zu verweigern. Und das Finanzamt Tübingen drohte dem Verein – wegen Zweifeln an seiner Verfassungstreue – mit der rückwirkenden Aberkennung der Gemeinnützigkeit, was den Ruin des Vereins bedeutet hätte. Dank einer Flut von Solidaritätsadressen konnte diese existenzbedrohende Repressalie gegen die unbequemen Kriegsgegner doch noch abgewendet werden. Wer aber hat IMI die Zweifel an der Verfassungstreue eingebrockt? Es war unser skandalträchtiger Inlandsgeheimdienst, der auf den euphemistischen Tarnnamen »Verfassungsschutz« hört – obwohl es sich genau genommen um einen Fremdkörper in der Demokratie handelt, der weder transparent noch wirklich kontrollierbar ist.
Die Ehrung für IMI fällt just zusammen mit dem 15jährigen Gründungsjubiläum. Möge der Aachener Friedenspreises, die »schönste Auszeichnung, die man sich als Kriegsgegner hierzulande wünschen kann«, so IMI-Vorstandsmitglied Jürgen Wagner, alle IMI-MitarbeiterInnen in ihrer so wichtigen und vorbildlichen Friedens-, Aufklärungs- und Motivationsarbeit bestärken.
Ossietzky
-Mitherausgeber Rolf Gössner, Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, hielt am 1. September in Aachen die Laudatio auf die Preisträger.