Bei einer Veranstaltung des Friedensratschlags in Kassel traf ich nach langer Zeit die Lehrerin Silvia Gingold, kürzlich pensioniert. Vor bald 40 Jahren hatte ich geholfen, daß sie ihren Beruf ausüben durfte. Als Referendarin und Beamtenanwärterin war sie fristlos entlassen worden: Berufsverbot. Ihr wurden »Erkenntnisse« vorgehalten, die das Verfassungsschutzamt seit ihrem 14. Lebensjahr über sie gesammelt hatte, zum Beispiel Hinweise auf ihre Teilnahme an Ostermärschen. Vor allem aber ihre Mitgliedschaft in der Deutschen Kommunistischen Partei. Als Kommunistin biete sie nicht die Gewähr, jederzeit aktiv für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten, behaupteten der damalige hessische Kultusminister, ein Sozialdemokrat, und die mit dem Fall befaßten Verwaltungsrichter. Eine Frechheit. Als Kommunisten hatten ihre Eltern Peter und Ettie Gingold in der französischen Emigrantin aktiv gegen die Nazis, für Freiheit und Demokratie gekämpft; in diesem Geist war Silvia erzogen worden. Der liberale Politologe Alfred Grosser, 1933 ebenso wie die Gingolds wegen seiner jüdischen Herkunft emigriert, nutzte seine Ernennung zum Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, um den in der Frankfurter Paulskirche versammelten Honoratioren vorzuhalten: »Kein Franzose kann verstehen, warum eine junge Frau nicht Lehrerin werden darf, nur weil sie Kommunistin ist. Die Kommunisten waren in der Résistance die zuverlässigsten Kameraden.« Ähnlich hatte sich zuvor schon der damalige Vorsitzende der französischen Sozialisten, François Mitterrand, geäußert – sehr peinlich für den SPD-Vorsitzenden Willy Brandt, den Hauptverantwortlichen für den Radikalen-Erlaß. Silvia Gingold durfte dann doch Lehrerin werden, aber – ein bißchen Diskriminierung mußte doch noch sein – nicht als Beamtin, sondern als Angestellte. Die von mir mitgegründete Initiative »Weg mit den Berufsverboten« konnte so den ersten großen Erfolg der internationalen Solidaritätsbewegung verbuchen.
Ich kannte Silvias Eltern schon viel länger – aus Zeiten, als die Kommunistische Partei in der Bundesrepublik illegalisiert war. Den aus der Emigration zurückgekehrten Gingolds wurde damals die deutsche Staatsbürgerschaft verweigert – während zum Beispiel niederländische SS-Männer, die nach dem Krieg von der niederländischen Justiz als Massenmörder zum Tode verurteilt und dann zu lebenslanger Haft begnadigt worden waren, in die Bundesrepublik fliehen konnten, und hier rasch mit Hilfe eines namhaften FDP-Politikers die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten, so daß sie fortan vor Auslieferung an die niederländische Justiz geschützt waren.
Peter Gingold berichtet darüber in seinem Erinnerungsbuch, das nach seinem Tod 2006 von seinen Freunden fertiggestellt und herausgegeben wurde. Silvia schickte es mir nach unserem Treffen, und ich habe es mit großer Freude gelesen – Freude vor allem an der Direktheit, mit der hier zentrale Erfahrungen des vorigen Jahrhunderts vermittelt werden, auch wenn es großenteils schreckliche Erfahrungen sind. Die schrecklichste: Sein Bruder Leo, dem er seine illegale Wohnung in Paris und seinen Personalausweis zur Verfügung gestellt hat, wird dort als der vermeintliche Peter Gingold verhaftet und ins Internierungslager Drancy gebracht, von wo die Transporte nach Auschwitz abgehen; von ihm kommt dann keine Nachricht mehr. Peter G.: »Sein Schicksal wäre meines gewesen, den normalerweise hätte ich in dieser Unterkunft die Nacht verbracht. Das läßt mich nicht mehr los. Er rettete mein Leben, ich brachte ihm den Tod. Das verfolgt mich Tag und Nacht bis an mein Lebensende.«
Durch die bloße Wiedergabe eigener Erlebnisse sticht dieses Taschenbuch ganze Bibliotheken deutscher Rechtfertigungsliteratur aus.
In der ersten Zeit nach dem Krieg war es seiner Frau und ihm nahezu unmöglich gewesen, über ihre Schicksale zu sprechen: »Die meisten sahen in uns Ankläger, hätten es lieber gehabt, wenn wir nicht überlebt hätten, nicht zurückgekommen wären.« In der öffentlichen Meinung galten die Überlebenden aus den KZs und Zuchthäusern vielfach immer noch ganz einfach als »Verbrecher«.
Peter Gingold war schon fast 90, als sich nach und nach Lehrer fanden, die ihn in den Unterricht einluden, wo die Schüler gebannt seinen Berichten folgten, die allen üblichen Darstellungen widersprachen – zum Beispiel über die Spaltung Nachkriegsdeutschlands. Ettie Gingold wurde Mitte der 1950er Jahre vom Friedenskomitee der BRD geehrt, weil sie als fleißigste, erfolgreichste Unterschriftensammlerin Tausende Menschen überzeugt hatte, einen Appell gegen die atomare Aufrüstung zu unterschreiben. Es war klar, daß die von Adenauer und Strauß betriebene Remilitarisierung die deutsche Einheit für lange Zeit unmöglich machen würde. Eine Unterschriftenaktion für eine Volksbefragung zur deutschen Einheit wurde verboten, die Polizei beschlagnahmte die Unterschriftenlisten.
Spannend war es auch, wenn Peter Gingold über die »IG Farben i. L.« berichtete (i. L.: in Liquidation). Der Chemiekonzern IG Farben war 1946 aufgelöst worden, 1947/48 hatten die Alliierten den Direktoren des Konzerns den Prozeß gemacht, aber nach Gründung der BRD wurden die Verurteilten bald aus der Strafhaft entlassen. Peter G.: »1954 wurde die Liquidationsgesellschaft gegründet, die über mehrere Hundert Millionen DM verfügte, mit denen vor allem die Überlebenden von Auschwitz, die Sklavenarbeiter bei den IG Farben gewesen waren, entschädigt werden sollten. Doch denjenigen, denen das Geld rechtmäßig zustand, wurde es nicht ausgezahlt. Die Entschädigungssummen wurden unterschlagen, eine Aktiengesellschaft gegründet und das Geld in Immobilien angelegt, um damit zu spekulieren. Nachdem ich das erfahren hatte, mobilisierte ich Überlebende, die bei jeder Hauptversammlung die ankommenden Aktionäre, es waren über Tausend, mit Umhängeschildern, Transparenten und Flugblättern empfingen. (...) Was mich veranlaßte, mich gegen die IG Farben zu engagieren: Auschwitz war das Lager der IG Farben. Die IG Farben lieferten das Zyklon B, mit dem Menschen wie Ungeziefer ausgerottet wurden. Beim Aufbau ihres Werkes in der Nähe von Auschwitz in Monowitz wurden 30.000 Auschwitz-Häftlinge durch Arbeit vernichtet. Unzählige wurden durch medizinische Versuche ermordet, mußten einen qualvollen, entsetzlichen Tod erleiden. Alles, was die Verschleppten aus ganz Europa an wertvollem Metall bei sich hatten, ihre Eheringe, sonstiger Schmuck, ja sogar das Gold aus den Zähnen, wurde den Leichen auch oft noch im Tod gewaltsam geraubt. Was nicht vorher in den Taschen der SS verschwand, landete bei der Tochterfirma der IG Farben, Degussa, in Frankfurt und wurde zu Goldbarren geschmolzen. (...) Unser Auftreten hatten wir immer mit der Forderung verknüpft: Sofortige Auflösung der Gesellschaft, alles vorhandene Vermögen muß in die Hände der Überlebenden. (...) Doch im Jahre 2001 hat die Liquidationsgesellschaft den Bankrott erklärt, nachdem mit kriminellen Machenschaften alles Geld, das den Opfern gehört, beiseite geschafft worden war.«
Bundesdeutsche Geschichte, anschaulich gemacht. Auch solche landesüblichen Erlebnisse: »Gegenüber meiner Wohnung wohnte im Parterre ein Rentner. Mir fiel auf, daß ständig der Rolladen heruntergelassen war, aber ein Spalt offen blieb. Ich sah ihn öfters, wie er mit einem Kuvert zum Briefkasten ging, ohne daß ich mir dabei etwas dachte. Eines Tages bekamen wir Besuch von einer Frau, die mit der Familie des Rentners befreundet war. Sie sagte uns im Vertrauen, aber voll Empörung: Dieser Mann beobachtet durch das Fenster alle Bewegungen in Eurem Haus, welche Wagen vorfahren, beschreibt die Personen, die ins Haus kommen, schreibt alles regelmäßig auf und adressiert es an eine Tarnadresse des Verfassungsschutzes. Offenbar erwarb er sich so ein kleines Zubrot. Ich habe es ihm gegönnt.«
Man kann das jetzt nicht mehr mit Gingolds klarer, heller Stimme hören, die immer wie ein Weckruf klang. Aber in diesem Buch ist es zu lesen. Dank an Peter Gingold, das er es hinterlassen hat. Dank an Silvia Gingold, die es mir geschickt hat.
Peter Gingold: »Paris – Boulevard St. Martin No. 11«, PapyRossa Verlag, 187 Seiten, 14,90 €