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Titel1811

Grundrechte als Luxusartikel  (Georg Rammer)

Deutschland feiert in Karlsruhe, der »Residenz des Rechts«, das 60jährige Bestehen des Bundesverfassungsgerichts. Ganz Deutschland? Gerade mal acht Prozent des Volkes, in dessen Namen Recht gesprochen wird, sagen: »Im Allgemeinen geht es gerecht zu auf der Welt«, wie Wilhelm Heitmeyer (»Deutsche Zustände«, 2010) feststellte. In einer repräsentative Forsa-Umfrage stimmten 79 Prozent der Befragten der Aussage zu: »Auf die Interessen des Volkes wird kaum Rücksicht genommen.« Gerade mal vier Prozent meinen, daß Wahlentscheidungen die Richtung der Politik stark beeinflussen. Das klingt nicht nach starkem Vertrauen in ein gerechtes Staatswesen.

In den letzten zehn Jahren verloren die abhängig Beschäftigten im Durchschnitt real 2,5 Prozent ihres Einkommens, während der erarbeitete Reichtum des Landes wuchs und wuchs. Geringverdiener büßten im selben Zeitraum sogar bis zu 22 Prozent ein, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung jüngst bekanntgab. Und laut Statistischem Bundesamt stieg die Zahl der »atypisch Beschäftigten«, also der Leiharbeiter, der befristet und in Teilzeitjobs Beschäftigten, stark an: Sie machen inzwischen ein Viertel aller abhängig Beschäftigten aus.

Die Umverteilung nimmt bedrohliche Ausmaße an: bedrohlich für die, denen genommen wird, und bedrohlich für die Gesellschaft, die durch die wachsende Kluft zerrissen wird. Im diesjährigen »Memorandum Alternative Wirtschaftspolitik« ist nachzulesen, daß die Verlierer der letzten zehn Jahre sehr viel Geld zu den Wohlhabenden tragen mußten: Politische Entscheidungen bewirkten, daß zwischen 2000 und 2010 insgesamt 789 Milliarden Euro von den Arbeitseinkommen zu den Besitzeinkommen umverteilt wurden.

Es könnte die Stunde des Bundesverfassungsgerichts sein, Regierung und Parlament zur Verwirklichung des sozialen Rechtsstaates zu verpflichten. Stattdessen segnet es eine neoliberale Politik samt ihrer Folgen für die Bevölkerung ab, obwohl die Verfassung zwingend etwas Anderes verlangt.

Das Grundgesetz bot nach Faschismus und Krieg eine solide Basis für den Aufbau eines gerechten demokratischen Gemeinwesens. Nicht zuletzt deshalb, weil der soziale Rechtsstaat – im Gegensatz zum bürgerlich-liberalen Rechtsstaat der Weimarer Verfassung – als Staatsziel verankert worden war. Im Parlamentarischen Rat setzte sich die Argumentation von Carlo Schmid (SPD) durch: Was nützen die besten Gesetze und Verfassungsartikel, wenn sie nur formal, als abstrakte Rechtsprinzipien festgeschrieben sind, in der Realität aber nicht durchgesetzt werden können? Werden die tatsächlichen Machtverhältnisse in einem Staat nicht berücksichtigt, dann werden die wirtschaftlich-politisch Mächtigen ihre Rechte und Interessen durchsetzen – nur sie. Der bürgerliche Rechtsstaat zementiert Ungleichheit und gibt ihr den Anschein von Gerechtigkeit und Verfassungskraft.

Der sozialdemokratische Staatsrechtler Hermann Heller, der im Faschismus Deutschland verlassen mußte, hatte diesen Zusammenhang schon 1930 dargestellt: »Rechtsstaat oder Diktatur?« Auf ihn berief sich Carlo Schmid, und tatsächlich beschloß die verfassungsgebende Versammlung 1948, daß die Grundsätze des sozialen und nicht die des bürgerlich-liberalen Rechtsstaates der Politik des neuen demokratischen Staates zugrunde gelegt wurden. Ein entscheidender Fortschritt: Im sozialen Rechtsstaat haben gesetzlich und verfassungsrechtlich festgelegte Rechte nicht nur formale Gültigkeit, sie müssen vielmehr real für alle Menschen gelten. Das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Diskriminierungsverbot, das Recht auf Gesundheit und Bildung – sie bekommen eine neue, sehr konkrete Bedeutung. Die Verfassung verpflichtet nämlich den Staat, durch die Gesetzgebung auf Ausgleich sozialer Unterschiede hinzuwirken und aktiv einen Zustand herzustellen, in dem die soziale Lage einer Familie und die Herkunft der Kinder nicht mehr über die Verwirklichung von Rechten und über die Lebenschancen bestimmen.

Die Realität im neoliberal geprägten Kapitalismus ist eine andere. Beispiel Kinderarmut: Gesundheit und Bildungschancen sind so eindeutig nach der sozialen Herkunft der Kinder verteilt wie früher nur in feudalen Verhältnissen. Nichts mindert die Chancen eines Kindes auf eine gesunde, unbelastete Entwicklung mehr als Armut. Statistisch zusammengefaßt: Wenn in Deutschland ein Baby in einer armen Familie geboren wird, sind seine Lebenschancen um zehn Jahre geringer, als wenn es in sicheren Verhältnissen zur Welt gekommen wäre.

Wie groß dürfen in Deutschland die Klassenschranken werden, wie eindeutig benachteiligend die soziale Herkunft, bevor das Bundesverfassungsgericht die Verwirklichung der Verfassungsgrundsätze einfordert? Im viel beachteten »Hartz IV«-Urteil vom Februar 2010 erwähnte es weder den notwendigen Ausgleich der krassen Unterschiede in Deutschland noch die Verpflichtung zur Herstellung von Bedingungen, unter denen Grundrechte für alle Menschen realisierbar sind.

Selbstverständlich können und sollen die Richterinnen und Richter am Bundesverfassungsgericht nicht unmittelbar eingreifen, um der Ungerechtigkeit wachsender Armut bei steigendem Reichtum entgegenzuwirken. Sie sollen aber als ein »allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbständiger und unabhängiger Gerichtshof des Bundes« (Bundesverfassungsgerichtsgesetz) die Grundsätze des sozialen Rechtsstaates einfordern. Gegenwärtig lassen die Roten Roben in Karlsruhe zu, daß Millionen Kindern wegen ihrer sozialen Herkunft Gesundheit, Bildung und soziale Teilhabe verweigert werden. Immer mehr Eltern verdienen so wenig, daß sie auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, und gleichzeitig werden durch staatliche Steuerpolitik ungeheure Geldvermögen angehäuft, alles wortlos geduldet vom Bundesverfassungsgericht.

Dem gigantischen neoliberalen Umbau der Gesellschaft Einhalt zu gebieten, wäre nicht einfach. Denn es ist ja nicht nur ein einzelnes Gesetz, das auf seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfen wäre; ganze Gesetzespakete zur Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung und zur Umverteilung der Steuerlast zugunsten der Reichen, von verschiedenen Koalitionen verabschiedet, haben die Bundesrepublik zu einem anderen Staat gemacht, der den Grundsätzen der Verfassung nicht genügt. Das Bundesverfassungsgericht nimmt diese Entwicklung hin und sanktioniert damit Verhältnisse, unter denen die Demokratie immer mehr Schaden nimmt.

»In unserer Gesellschaft wird doch Demokratie nur noch vorgegaukelt und die gesellschaftliche Teilhabe auf den Meinungsaustausch von Eliten reduziert«, sagte Gert Weißkirchen (SPD), der 33 Jahre lang Bundestagsabgeordneter war, in einem Gespräch in Karlsruhe.

Die wirtschaftlich-politische Elite wird bei den Feierlichkeiten zu 60 Jahren Bundesverfassungsgericht unter sich bleiben. Sicher werden Redner die Vorzüge der Demokratie und die Verdienste dieses Gerichts hervorheben. Sie alle werden aber nicht die realen Machtverhältnisse, die ungerechte Verteilung von Einkommen, Vermögen und Einflußmöglichkeiten thematisieren, die den sozialen Rechtsstaat und die Demokratie verkommen lassen.

»Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mir als Repräsentanten eines Verfassungsorgans ist nicht nach Feiern zumute, wenn elementare Staatsziele nicht verwirklicht sind. Eine fundamentale normative Verfassungsverpflichtung bindet staatliche Hoheitsträger, durch aktive politische Gestaltung für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen. Das tun sie mitnichten. Für einen wachsenden Teil des Volkes sind Grundrechte bloß noch abstrakte Rechtssätze, die mit dem Alltag der Menschen nichts zu tun haben. Grundrechte sind aber ohne die tatsächliche Möglichkeit, sie in Anspruch nehmen zu können, wertlos. Ich rufe deshalb die staatlichen Hoheitsträger dringend dazu auf, den sozialen Rechtsstaat und die Prinzipien der Verfassung substanziell zu verwirklichen.« Es wäre ebenso mutig wie der demokratischen Kultur dienlich, wenn der Präsident des Bundesverfassungsgerichts die Feierlichkeiten im September so oder so ähnlich (mit Zitaten aus Lehrbüchern des Staatsrechts) eröffnen würde.