Gewußt hat es schon 1943 der einem alten bayerischen Offiziersgeschlecht entstammende Generalmajor Karl Hans Maximilian von Le Suire: »Es gibt keine Freundschaft mit dem Sauvolk.« Und so befahl er das Massaker von Kalavryta und ließ 674 Griechen erschießen. Lebende Griechen wurden damals artgemäß gehalten. Der Beauftragte der schwedischen Hungerhilfe stellte im selben Jahr fest: »Als wir zum ersten Mal nach Griechenland fuhren ... haben wir Menschen getroffen, die buchstäblich weinend um ein Stück Brot baten.« Die Bevölkerung habe nur von »Ersatzbrot, das aus Ersatzmehl, wilden Birnen und Eicheln gebacken war« gelebt, »eine Nahrung, die im allgemeinen nur für Schweine bestimmt ist«.
Auf Kampnagel in Hamburg werden diese Verhältnisse auf die Füße gestellt. In einer Halle liegt Griechenland am Boden – vor uns ausgebreitet. Wer will, kann drauftreten. Oder er sieht auf das Land von einer Brücke herab. Aber, es riecht so merkwürdig nach Kartoffelschalen. Ja, Schweinefutter, das ist es. Tiere werden losgelassen auf die griechischen Inseln, auf Athen. Sie machen sich über das Land her, deutsche Schweine. Anstandshalber lassen sie, nachdem sie erst einmal satt sind, noch etwas übrig – für später? Der Künstler Santiago Sierra, der die »Installation« mit der Aktion der Schweine für Hamburg konzipiert hat, verweist noch auf einen anderen Aspekt des Sich-den-Bauch-Vollschlagens. In einem Info-Blatt erinnert er daran, daß die Hamburger auch »ökonomisch Teil dieser Nahrungskette« seien. Griechenland, als wichtiger »Kunde« der Waffenindustrie, bekommt von 93 Rüstungsunternehmen in der Hansestadt Waffen geliefert. Deutschlands Radio-Kritiker Michael Laages hielt pflichtgemäß die Schweine-Aktion von Sierra für »groben Unfug«.
In Halle 2 stellt die Gruppe »Rimini-Protokoll« ihr Stück »Prometheus in Athen« vor. 2010, im Mai, ließ sie 103 Bürger dieser Stadt als »Experten des Alltags« im Amphitheater am Fuß der Akropolis auftreten. Die sollten begründen, mit welcher Figur aus dem »Gefesselten Prometheus« von Aischylos sie sich identifizieren würden. Draußen tobten Streiks und Demonstrationen. Im Herodion Theater in Athen: der Mythos. In Hamburg ist das alles auf der Filmleinwand reproduziert. Davor auf der Bühne einige der Mitwirkenden von 2010, die über sich Auskunft geben. Manche sprechen deutsch, haben sich hier angesiedelt, denn »man kann nicht von der Schönheit der Sonne leben, wenn der Kühlschrank leer ist«. Eine, die nach Deutschland kam, ist schockiert von der hohen Selbstmordrate der Griechen. Im Film heißt es optimistisch: »Wir sind Athen ..., unsere Stadt ist unsere Bühne.« Ein Herr im grauen Anzug, mit roter Krawatte, Diplom-Volkswirt, zuständig für die Arbeitsreform, eine Art griechisches »Hartz IV«: Seine Bezüge sind 40 Prozent niedriger als früher. Aber er hat noch seine Arbeit. Eine Kommunikations-Spezialistin kommt auf die Bühne. Sie lebt jetzt in London. Typisch für die Griechen?
Ein Anschlag zerstörte Konstantina Kounevas Gesicht – die aufsässige Gewerkschafterin arbeitete als Hausmeisterin in Athen. Als sie spätabends das Haus verließ, wurde ein Säure-Attentat auf sie verübt. Sie mußte sich zahlreichen Operationen unterziehen, in Paris. Eine Freundin stellt sie im Film mit einer zweigeteilten Maske dar, im weißen Kleid. Ich habe vergessen, mit wem sie sich identifiziert. Vielleicht mit keinem der Götter und Titanen, viele Personen halten ein Schild mit einem Götternamen in der Hand. Einer wählte »Bia«, was Gewalt bedeutet. Warum? Weil kein anderer dieses Schild halten wollte.
In Hamburg, auf der Bühne, wurden Fragen gestellt. Von den Mitwirkenden an ihre Kollegen und an das Publikum – hin und wieder. Was zur Verwirrung beitrug, Kreideschriften auf dem Boden: »Ich nicht« auf der einen Seite und »Ich« auf der anderen. Und so scharte sich jeweils ein Häufchen zum passenden Wort. Im Film eingeblendet, Prozentzahlen. Fragen, die doch allzu allgemein daherkamen: »Wer hat Macht? Wer glaubt, daß er regieren kann? Wer glaubt von sich, daß er ein Philanthrop sei? Ist eine schwere Krankheit eine Strafe Gottes?« Interessant jedoch: Keiner würde töten, um Athen zu schützen. Einige Fragen sind aktuell, betreffen die Finanzhilfe an Griechenland oder den möglichen Bankrott des Landes. Eine Frage aus dem Publikum: »Warum sind die Griechen so friedlich?« Ratlosigkeit. Prometheus, der Standhafte, der Wahrheitssucher und Empörer, fast alle identifizieren sich mit ihm. Der an den Felsen Geschmiedete, dessen Leber von einem Adler zerfleischt wurde, jeden Tag. In den Informationen zum Stück ist von »Brücken schlagen ins Heute« die Rede und was geschehen sei seit der Aufführung 2010. »Wie geht es weiter. Wer spielt den Felsen und wer den Adler?« Antworten, die offen bleiben, die hier gar nicht gestellt werden auf der Bühne.