Von ihm wußte man: Er hat an der Sorbonne studiert, seine jüdische Mutter im Krieg verloren, danach die DEFA-Wochenschau mit dem Motto gestartet: »Sie sehen selbst, Sie hören selbst – urteilen Sie selbst.« Propagandistische Einfalt klingt anders. Er wollte stets erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Ihn zog es hin zu der neuen Gesellschaft, die im deutschen Osten entstehen sollte. Daß westwärts Altnazis wieder hoffähig wurden, ließ mögliche Zweifel am Kurs der DDR verblassen.
Ideologisch bestimmtes Denken kann zu Stillstand führen. Das dämmerte ihm schon, als er mir zum Vorbild wurde mit seiner Weltkenntnis, Filmerfahrung, Herzlichkeit und einer Art heiterer Wißbegier. Das völlige Fehlen von Arroganz ließ mich, den 16 Jahre jüngeren Gesprächspartner, glauben, für ihn interessant, ja sogar wichtig zu sein ... Ja, so hätte ich mir den eigenen Vater gewünscht, der längst in Rußland geblieben war. Jetzt, bei der Todesnachricht, denke ich: Welch ein Glück für mich, diesen außergewöhnlichen Mann überhaupt gekannt zu haben.
»Früher scheiterten Flugzeuge an Gipfeln, heute ist es umgekehrt«, so scherzt Professor Dr. Kurt Maetzig bei unserem ersten Händedruck im Mai 1960. Er kommt, um meinen Roman »Der Traum des Hauptmann Loy« zu verfilmen. Der fußt nämlich auf dem ersten spektakulären Luftzwischenfall der Nachkriegszeit, dem Scheitern eines US-Fernaufklärers am 8. April 1950 vor der lettischen Küste. Und nun, zehn Jahre später, der vorerst letzte Skandal: Da hat es die russische Luftabwehr geschafft, einen Höhenspion vom Typ U-2 bei Swerdlowsk zu erwischen. Weil US-Präsident Dwight D. Eisenhower aber solch völkerrechtswidriges Eindringen öffentlich billigt, als unerläßlich für die Sicherheit des Westens, sagt Nikita Chruschtschow das mit ihm zum 19. Mai in Paris geplante Gipfeltreffen zornig ab.
Auch mit diesem Film, so merkt zum Tode des Altmeisters die Ostsee-Zeitung am 9. August 2012 tadelnd an, habe die »DEFA-Legende« Kurt Maetzig »einem didaktischen Realismus gehuldigt«. Gar nicht mal falsch! Denn uns, Autor wie Regisseur, verband ja der Wunsch, zu zeigen, was da lief, wer voranging im Kalten Krieg. Die U.S. Air Force überschritt ständig fremde Grenzen, ohne daß der sowjetischen Luftwaffe in all der Zeit auch nur ein einziger Fall von Späh- oder gar Angriffslust vorzuwerfen gewesen wäre. Davon zu erzählen – kein Thema für die Filmkunst?
Der Regisseur – einer der drei Großen im Studio – schreibt das Drehbuch selbst; ich helfe ihm bloß bei den Dialogen. Der Spitzenmann des Fachs, 49, steht im Zenit seines Schaffens. Manches von ihm, wie schon der DEFA-Start »Ehe im Schatten«, zählt zum Besten des ostdeutschen Films – zu einer Zeit, da der westdeutsche künstlerisch noch arg darniederliegt. Auch sein »Der Rat der Götter« hat mich beeindruckt, bringt er doch das auf den Punkt, was der Volksmund seit langem in Sätze faßt wie »Der Krieg geht für die Reichen« und »Geld regiert die Welt«.
Und kaum ist »Der Traum des Hauptmann Loy« fertig, starbesetzt im Breitwandformat »Totalvision«, da schwebt ihm etwas vor, das uns beide im Juni 1961 nach Kuba führt. Nie gab es wieder einen so weltgewandt-sprachkundigen wie kameradschaftlichen Partner für mich. Längst haben wir uns angefreundet dort in der Ferne, auf Stoffsuche für einen Film, der dann »Preludio 11« heißen wird, da bietet er mir eher beiläufig sein Ahrenshooper Sommerhaus zum Kauf an. Erst sechs Jahre steht es, wird von ihm wenig genutzt, und der Preis ist mehr als fair: zwei Drittel der Baukosten. Das würde heutzutage kein Bauherr oder Immobilienmakler fassen.
Die Realisierung des Films leidet schwer unter der hochgefährlichen Raketenkrise vom Herbst 1962. Gedreht wird in Kubas Westprovinz mit ihren bizarren Felsen. Deren Höhlen bergen nun auch jene sowjetischen Fernwaffen, die – als Gegenstück zu den US-Raketen in der Türkei – Washington an Invasionen à la Schweinebucht künftig hindern sollen. Das funktioniert auch nach dem beiderseitigen Abzug des Teufelszeugs. Nur machen »Voodoo«-Tiefaufklärer üblen Kriegslärm, schüren Furcht vor einem Luftschlag, gefolgt von Landungen der US-Army. Dem Filmteam sitzt die Angst im Nacken, vieles muß in Babelsberg nachgedreht werden, zu Lasten der Qualität.
Und daheim stößt der Freund auf noch mehr Hürden, seine Neider lassen ihn straucheln. Die Partei schickt ihn »in die Produktion«, eine Bosheit, die er als gelernter Fotochemiker bei Agfa Wolfen glatt aussitzt. Noch ist er als Gründungsrektor der Potsdamer Filmhochschule dabei, Zensurgrenzen zu überwinden und mit begabten Regiekollegen im DEFA-Studio das Filmwesen zu demokratisieren. Da trifft ihn die totale Verdammung seines gesellschaftskritischen Films »Das Kaninchen bin ich« Ende 1965 mit voller Wucht – so tief, daß er glaubt, man werde ihn wie Wolfgang Harich oder Erich Loest einsperren, wenn er nicht zu Kreuze kriecht, per Selbstkritik im Neuen Deutschland; dort dann von Walter Ulbricht väterlich mahnend quittiert.
Nun freilich rückt eben deshalb mancher von ihm ab; leider auch ich. Mir geht es nach dem schlimmen 11. Plenum des ZK der SED vor allem darum, Stefan Heym zu verteidigen. Dem habe ich mich so eng angeschlossen, daß mir ganz aus dem Blick gerät: Ein Autor kann, wenn er in Ungnade fällt, ja weiterschreiben, halt für die Schublade. Als Regisseur aber ist man tot, wenn einem das Studio verschlossen bleibt. Filmleute sind erpreßbar; wir wissen das auch aus Hollywood.
Bei Kurt Maetzig bleiben Narben. Was an Filmen noch folgt, trägt »Spuren von Ermüdung«, wie man in Nachrufen liest, die nebenbei zeigen, wie verklemmt in der Presse geschrieben wird, wann immer die DDR ins Spiel kommt. »Regimetreue«, gar »Kitsch für gußeiserne Ideologen« sieht der Spiegel bei Maetzig; während die Frankfurter Rundschau konzediert, anders als NS-Propagandastreifen regten seine Filme »weder zu Rassen- noch zu Völkerhaß an«. Aber doch wohl – ähnlich böse? – zu Zweifeln am Klassenfrieden im Zeichen des Kapitalismus. Kulturschaffende aus Deutsch-Nordost kann schließlich nur dreierlei entlasten: ihr rechtzeitiger Weggang gen Westen, ein früher Tod von Frauen wie Brigitte Reimann oder, bei Männern, ein verblüffend langes Leben. Mit den 101 Jahren, die er erreichte, ragt Kurt Maetzig weit über den Durchschnitt, schon das erheischt Respekt in Redaktionen.
Wie ist ihm das wohl geglückt? Durch kluge Lebensführung ohne Alkohol und Tabak, mit viel Bewegung, körperlich wie geistig. Seit 1979 stand er – bloß eine seiner späten Aktivitäten – dem Internationalen Filmclub als Ehrenpräsident auf Lebenszeit vor. Auch die Spottlust hielt ihn jung – etwa wenn er mich den »Inhaber einer gutgehenden Schriftstellerei« nannte. Wir trafen uns in der Neigung zur Ironie – und nahmen einander dennoch ernst, als Männer vom linken Flügel.
Dem Fernsehautor Helmut Sakowski (1924–2005), wie Maetzig im südlichen Mecklenburg zuhaus, ist übrigens unsere Aussöhnung zu verdanken, die längst überfällig war. Wir besuchten einander mit unseren Frauen in Wildkuhl wie in Ahrenshoop. Und neben Bewunderung für das erstaunlich hübsche Anwesen, von ihm aus schierem Ackerland erschaffen, blieb von der letzten Begegnung zweierlei in mir haften: sein hohes Lob für das Buch »Filme machen« der Hollywood-Legende Sidney Lumet (1925–2011). Das hatte ich ihm geschickt, zu meiner Freude fand er darin eigene Intentionen wieder.
Und, noch eindringlicher: sein Zorn auf die Entwicklung in Rußland unter Boris Jelzin, der es zuließ, daß aus schlauen Funktionären plötzlich Superreiche wurden wie Chodorkowski, jener Märtyrer und Held der Westmedien. Maetzig verglich sie mit den Aufsteigern des späten 19. Jahrhunderts in den USA, damals »Räuberbarone« genannt, als sie Land oder Öl und Geld an sich rissen. Die zügellose Angriffslust und der wilde, oft bewaffnete Zugriff solcher Leute, darin stimmten wir überein, hat unendliches Leid über die Menschheit gebracht – damals; und nicht nur im Blick auf den Iran droht solch entsetzliche Gefahr noch heute. Es fehlt ein Filmemacher wie er, der uns genau das zeigt!