Gustl Mollath ist auf freiem Fuß, fühlt sich aber nicht frei. Frei wird er vielleicht sein, wenn er nach dem Wiederaufnahmeverfahren rehabilitiert, angemessen entschädigt und wieder integriert worden ist. Dazu muß der Fall Mollath noch einmal aufgerollt und der Schwerpunkt des Prozesses an einem entscheidenden Punkt neu gesetzt werden, und zwar auf die HypoVereinsbank. Das wird nur gelingen, wenn der Fall nicht mehr als »Rosenkrieg« zwischen dem Ehepaar Mollath dargestellt, sondern der Kern des Konflikts, das von Mollath angezeigte Bankenverbrechen, öffentlich berücksichtigt wird.
Das Verbrechen an Mollath wird von nahezu allen Kommentatoren auf das Versagen von Justiz und Psychiatrie reduziert, als ob die Bayerische HypoVereinsbank nichts mit der Sache zu tun gehabt habe. Ein Beispiel dieser entkernten Falldarstellung lieferte Christian Bommarius in der Frankfurter Rundschau vom 17./18.8.2013. Ein guter Kommentar zum Auftritt Gustl Mollaths bei Reinhold Beckmann in der ARD. Doch Bommarius schreibt dort, daß die Ex-Frau Mollaths »den Stein mit ihrer Anzeige ins Rollen brachte«. Das ist irreführend. Den Stein brachte Gustl Mollath ins Rollen. Er drohte, seine Frau, damals »Vermögensberaterin« der HypoVereinsbank, und mit dieser auch die Bank, wegen wirtschaftskrimineller Praktiken von Schwarzgeldverschiebungen in Tateinheit mit Steuerkriminalität auffliegen zu lassen.
Über diesen harten Kern des Falles, der bei Beckmann sehr wohl thematisiert wurde, verliert Bommarius kein Wort. Weshalb? Wer den »Fall Mollath« gründlich analysiert, wird feststellen, daß er in Wirklichkeit ein – inzwischen höchstwahrscheinlich verjährter – Kriminalfall der Bayerischen HypoVereinsbank ist. Dazu muß man nicht einmal die Geschichte dieser Bank kennen und auch nicht wissen, daß in den Jahren, in denen Mollath erstmals die Bank dieses schweren Verbrechens beschuldigte, diese gerade europaweite Fusionsvorhaben und die Osterweiterung ihres Wirkungskreises durchgezogen hatte, die im Jahr des Mollath-Prozesses, 2006, in eine große Public-Relations-Kampagne mündeten.
Nur am Rande bemerkt sei hier die »strategische Partnerschaft« der HypoVereinsbank (HVB) mit dem 1. FC Bayern, mit der die Bank öffentlich für sich wirbt. Ausgerechnet Uli Hoeneß betrieb noch bis zu seiner Selbstanzeige für die Zuverlässigkeit von Geldanlagen bei der HVB (zusammen mit Börsenguru Frank Lehmann) vertrauensbildende Werbung. Sie wurde – verständlicherweise – nach der Aufregung über Hoeneß von der Website der HVB entfernt. Vielleicht wird ja der anstehende Hoeneß-Prozeß klären, ob die Bank (vielleicht sogar Petra M.) auch dem Präsidenten der Münchner Meisterkicker behilflich war, einen Teil der in seiner Nürnberger Wurstfabrik sauer verdienten Millionen vor dem Zugriff des Fiskus zu retten. Solche Gedanken drängen nach vorn, wenn man Begriffe wie »strategische Partnerschaft« liest. Ob Staatsanwälte im demnächst stattfindenden Prozeß gegen den Noch-Präsidenten Hoeneß auf solch abwegige Gedanken kommen und deren Stichhaltigkeit überprüfen, darf nach allem, was über bayerische Gesetzeshüter bekannt ist, vorerst bezweifelt werden.
Da Gustl Mollaths 2004 von ihm geschiedene Ehefrau für diese Bank arbeitete und ihre »Vermögensberatung« so weit ging, daß sie sogar ganz persönlich Schwarzgeld reicher Leute in die Schweiz schaffte, verfügte Mollath über »Insiderwissen«. Das hatte die Bank schon 2003 in ihrem über Jahre geheimgehaltenen Bericht der Innenrevision festgestellt. Daß es beim Ehestreit zu Mollaths Drohung kam, seine Frau und die Bank wegen dieses Wirtschaftsverbrechens anzuzeigen, muß bei allen Mittätern, vor allem der Bank, Alarm ausgelöst haben. Jetzt waren zuverlässige Berater und Beziehungen gefragt. Alles durfte passieren, nur nicht, daß eine öffentliche Debatte über kriminelle Geschäfte der HVB ihre gerade laufende Image-Erneuerungskampagne ad absurdum führte.
Bedarf es einer Verschwörungstheorie, um sich vorstellen zu können, wie die Telefone der beteiligten bayerischen »Leistungsträger« glühten? Daß Staatsanwälte, Wirtschaftskriminalisten, Steuerfahnder die Bank stürmen, leitende Bankangestellte verhaften könnten, muß einen Panik erzeugenden Druck auf alle staatstragenden Kräfte des CSU-Musterlandes ausgeübt haben. Dieser Druck –man lese nur über das Gebrüll des Vorsitzenden Richters, wenn Mollath von der HypoVereinsbank und der Geldverschiebung sprechen wollte – genügt als Erklärung dafür, wie die Idee entstanden sein könnte, diesen Vorwurf als frei erfunden, als »paranoide Wahnvorstellung« abzuqualifizieren, statt ihn einer gründlichen staatsanwaltschaftlichen und gerichtlichen Überprüfung zu unterziehen, wie es bei angezeigten Offizialdelikten gesetzliche Pflicht ist.
Doch Staatsanwaltschaften sind weisungsgebunden. Falls es von oben die Weisung, die Finger von der Bank zu lassen, gegeben haben sollte, was noch zu klären ist, wären die Staatsanwälte entlastet. Wären sie zurückgepfiffen worden, hätten aber die – laut Ministerin Merk »unabhängigen« – Richter die Überprüfung dieser schwerwiegenden Vorwürfe veranlassen müssen.
Die von psychiatrischen Gutachtern als »diffus« und »paranoid« abqualifizierten Behauptungen Mollaths zum »Schwarzgeldsystem« der HypoVereinsbank waren immerhin klar genug, die Bank zu einer Innenrevision zu veranlassen. Und daß Frau Mollath, allen gegenteiligen Behauptungen ihres jetzigen Ehemannes – damals einer der Direktoren der HVB – zum Trotz, in die Sache verwickelt war, scheint nicht unwahrscheinlich. Wie sonst hätte Gustl Mollath zu seinem Insiderwissen gelangen können, das ihm die HVB-Innenrevision in ihrem geheimen Bericht bescheinigte? Die Diagnose der Psychiater, Mollath sei nicht schuldfähig, weil wahnsinnig und gemeingefährlich, erinnert vor diesem Hintergrund an die Konstruktionen der mittelalterlichen Inquisition.
Die illegalen Geldverschiebungen der Bank waren schon drei Jahre vor der Einweisung Mollaths in die forensische Psychiatrie eindeutig bewiesen. Dennoch schreibt die Die Welt vom 17.8.2013: »Gustl Mollath soll ein dubioses Schwarzgeldsystem der HypoVereinsbank aufgedeckt haben, dem auch seine damalige Frau angehörte.« Man achte auf das Wörtchen »soll«. Aber wenigstens klammert Die Welt – anders als Herr Bommarius in der FR (und Beate Lakotta im Spiegel 33/13) – das Thema nicht aus. Ja sie schreibt sogar: »Weil die Sache für Prominente, vielleicht sogar für die ›bayerische Staatspartei‹ CSU hätte gefährlich werden können, brachte Petra M. ihren damaligen Ehemann in die Psychiatrie«, fügt jedoch hinzu: »lautet die gängige Interpretation des Falls«. Sie ergänzt noch: »Als Beweis zirkuliert im Netz ein Revisionsbericht der Bank aus dem Jahr 2003, der auf Mollaths Unterstützer-Seiten zu finden ist. In dem Bericht steht: ›Die Anschuldigungen des Herrn Mollath klingen zwar in Teilbereichen etwas diffus, unzweifelhaft besitzt er jedoch ›Insiderwissen‹.«
Wenn nach dem Bericht der Innenrevision »alle nachprüfbaren Behauptungen« zutreffend sind, also Mollaths damalige Frau, andere Mitarbeiter und die HypoVereinsbank tatsächlich das Verbrechen der Schwarzgeldverschiebung und Beihilfe zur Steuerkriminalität begangen haben, und wenn die Bank durch das rechtzeitige Eingeständnis ihres Verbrechens das Verbrechen an Mollath hätte verhindern können, muß das Problem Wirtschaftsverbrechen der HBV im Mittelpunkt des Wiederaufnahmeverfahrens stehen. Alles andere sind Folgewirkungen.
Details zu diesem Fall und vergleichbaren Begebenheiten finden sich in den Büchern des Mollath-Unterstützers Wilhelm Schlötterer: »Macht und Mißbrauch« sowie »Wahn und Willkür«. Schlötterer, einst oberster Steuerfahnder Bayerns, fiel selbst wegen Korrektheit im Fall Beckenbauer in Ungnade.