In die Lebenszeit des Erwachsenen fielen: der Siebenjährige Krieg, der amerikanische Unabhängigkeitskrieg, die Französische Revolution, die Koalitionskriege gegen die französische Republik und Napoleon, und vor allem eine der großen »Revolutionen des Geistes« (so nach dem Wort D’Alemberts): die Aufklärung, in deren letzter Phase, der Spätaufklärung, er in Deutschland als ihr größter dichterischer Repräsentant wirkte – Christoph Martin Wieland.
Wegen seines Festhaltens an den Grundpositionen der Aufklärung, dazu in Ablehnung seiner Freizügigkeit bei Verwendung erotischer Motive taten ihn die Romantiker um 1800 in Acht und Bann, an der Spitze die Brüder Schlegel, die einen förmlichen »Belagerungszustand« im deutschen Sprachgebiet über ihn ausriefen. Diesen aufzuheben, gelang durchgreifend nicht vor 1945. Danach lenkte der Hamburger Literaturforscher Hans Wolffheim den Blick auf Wielands humanistischen Avantgardismus (»Wielands Begriff der Humanität«, Hamburg 1949). In der DDR initiierte Thomas Höhle in Fortführung der Tradition der marxistischen Aufklärungsforschung (Franz Mehring, Paul Rilla) zwei Konferenzen mit internationaler Beteiligung in Halberstadt – wo das Gleim-Haus eine vorzügliche Tagungsstätte bot: die erste zum 250. Geburtstag des Dichters (»Wieland 1983«), 1987 eine zweite mit dem innovierenden Thema »Der späte Wieland«.
Aktuell sollte ein Lesepublikum zu erneuter Lektüre des Dichters sich dadurch stimuliert fühlen, daß es mit zahlreichen anderen rebellischen Texten auch wichtige von ihm in einem gerade erschienenen Sammelwerk unter dem Titel »Lob des Kommunismus« abgedruckt findet (Verlag Ossietzky).
Der Pfarrerssohn Wieland, geboren 1733 in Oberholzheim bei Biberach, verlebte seine Kindheit und Jugend in Biberach, erhielt 1747/49 eine pietistische Erziehung im Kloster Berge bei Magdeburg und studierte Jura in Erfurt und Tübingen. Nach mehrjährigem Aufenthalt in der Schweiz, wo er unter anderem als Hauslehrer tätig war, erhielt er 1760 das Amt eines Kanzleiverwalters, Senators und Syndikus in Biberach, dann 1769 die Professur der Philosophie im kurmainzischen Erfurt. Seit 1772 Prinzenerzieher am Weimarer Hof, lebte er seit 1775 mit Pension als freier Schriftsteller in Weimar und Oßmannstedt. 1773 bis 1810 gibt er die literarische Zeitschrift Der Teutsche Merkur heraus (ab 1790: Der neue Teutsche Merkur). Zu seinem Werk gehören Versdichtungen (zum Beispiel »Oberon«, mit Motiven aus der Ritterzeit und Shakespeares »Sommernachtstraum«), Erziehungs- und politische Schlüsselromane, in der Mehrzahl in antiker Gewandung (so sein Frühwerk »Agathon«; am umfangreichsten das Spätwerk »Aristipp«, dies mit den gegen die Mystagogie Platons gerichteten »Antiplatonischen Briefen«), ein Band Beiträge über die Französische Revolution sowie Übersetzungen, darunter von Autoren aus der Antike wie Lukian, den später Kurt Tucholsky sich als Lieblingsautor erkor.
Die Aufhebung des Banns bewirkte allerdings bis heute noch nicht die Rehabilitation seines Gesamtwerks, welches Jan Philipp Reemtsma vor einiger Zeit bei Zweitausendeins als Reprint wieder edieren ließ. Zweifelhaft ist, ob der Kanon der Schullektüre jemals Stücke daraus umfassen wird. Doch sind seine Schriften nirgends dunkel, nirgends schwer, nirgends unlesbar. Im Gegenteil, und undenkbar ja, daß die darin vorhandene Rokoko-Erotik immer noch abschrecken müßte.
Das Hindernis, das ihnen hauptsächlich im Wege liegt, ist ein in der Gegenwart dominierender Literaturbegriff. Er schließt weithin gerade das aus, was die Eigentümlichkeit der besten Werke Wielands ausmacht: ihre humanisierende Tendenz. So erkennt er als die »wahre Bestimmung der Dichtkunst« 1773: »uns den Geist des Friedens, der Duldung, der Wohltätigkeit und allgemeinen Geselligkeit einzuflößen; den Menschen durch die Allmacht des Gefühls einzuprägen, daß sie Brüder sind und nur durch Vereinigung und Zusammenstimmung glücklich sein können«; und eine streitbare Seite habe Dichtkunst auch: die Polemik gegen solche Herrscher, deren Regierungskunst darin besteht, »zu unterdrücken, zu würgen und zu erobern«. Der heutige Literaturbegriff umschließt ferner das Dogma, wonach didaktische Aussagen in der Epik zwar als Figurenrede die sprechende Figur charakterisieren, keinesfalls aber als Bestandteile einer seriösen Gedankenwelt außerhalb der Literatur taugen. Daß jedoch die schöngeistige Literatur durchaus Vorschläge einbeziehen dürfe, die auf die Veränderung von in der Realität vorhandenen Zuständen zielen, versuchte damals Goethe einzuschärfen. In seiner Gedenkrede auf Wieland 1813 legte er dar, daß dieser etwa seinen Helden Aristipp sehr wohl »als Repräsentanten seiner Gesinnungen« ausgebildet habe.
Das für Wieland übergeordnete Prinzip, welches die Vergesellschaftung der Menschen bewirke, ist – wie es auch seine Zeitgenossen Schiller und Beethoven mit ihrem Kult der Freude (des »schönen Götterfunkens« aus dem Elysium) ausdrückten – die Freude: »Wir Griechen sind so sehr davon überzeugt, daß Freude das höchste Gut der Sterblichen ist …«; indes »wir Griechen« hieß übersetzt: (auch) wir Deutschen. Selbst noch das Wort »Freude« erfordert eine Übersetzung. Es heißt, den Menschen der Epoche geläufig, mit Wendung gegen Philosophien, Mythologien und Religionen, die aufs Glück im Jenseits pochten: das Glück im Diesseits, das erfüllte Dasein im Hier und Jetzt.
Eine Menschenwelt dieser Art errichtet sich jedoch nicht von selbst. Eine erste Vorbedingung sind Sammlung von Erfahrung und Kenntnis, die der Menschheit kaum aus der Kirchenlehre zufließen. Wer sich auf sie stützt, von dem gilt (so im »Oberon«): »Er war an Glauben stark, wiewol an Kenntniß schwach.« Nächste Vorbedingung sind: »Die beiden großen Geburtsrechte des attischen Bürgers« – des deutschen zugleich – sind »Freiheit und Gleichheit«. So im »Aristipp«, und darin ähnelt der »attische Bürger« doch sehr auch dem Citoyen im revolutionären Frankreich. Wieland flog aber nicht nur im Kometenschweif der Französischen Revolution mit, sondern nahm seinerseits deren Erklärung der Menschenrechte voraus. In seinem Roman »Der goldene Spiegel« (1771/72 entstanden), listete er die wichtigsten »Grundsätze« auf, die einen Katalog der Menschenrechte ergeben, und das erste Axiom darin lautet: »Alle Menschen sind Brüder und haben von Natur gleiche Bedürfnisse, gleiche Rechte, und gleiche Pflichten.« Gegen den Gleichheitsgrundsatz verstößt die Existenz des Reichtums: »Wo großer Reichtum ist, muß notwendig auch große Armut sein ...« Im Junktim mit Armut kann Gleichheit nicht gedeihen: »Denn bei weitem die größere Zahl lebt in Armut und Mangel an allen Bequemlichkeiten, genießt wenig oder nichts von den Früchten des anscheinenden Wohlstands und Reichtums des Staats, muß, um einer kleinen Anzahl üppiger Müßiggänger ein prachtvolles und wollüstiges Leben zu verschaffen, über Vermögen arbeiten und sich oft schlechter nähren als die Wilden und, damit an ihrem Elend nichts fehle, geduldig zusehen, wie die Müßiggänger sich auf ihre Unkosten wohl sein lassen.«
Wieland durchschaute mit größter Klarheit den Sachverhalt. Vor seinen Augen breiteten sich die Ausbeutergesellschaften aus, nur solche gab es zu seiner Zeit. Solange es sie gab, konnte jener »schöne Götterfunke« nicht das Glück der Freien und Gleichen erwirken.