Im »Theater unterm Dach« in der Danziger Straße sah ich »Annes Schweigen« von Doğan Akhanli, aufgegriffen wird die Problematik armenisch-türkischer Beziehungen. Anne steht hier für türkisch »Mutter«, die Frau, um die es geht, heißt Sabiha, gestaltet und gesprochen von der gebürtigen Armenierin Bea Ehlers-Kerbekian. Den historischen Hintergrund bilden die furchtbaren Konflikte aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, als osmanische Truppen ein furchtbares Gemetzel am armenischen Bevölkerungsteil vollzogen hatten. Das verbündete deutsche Kaiserreich hat zugesehen. Franz Werfel setzte in seinem historischen Großroman »Die vierzig Tage des Musa Dagh« den armenischen Kämpfern und Opfern ein Denkmal. Nun also das Stück von Akhanli, das diesem gewaltigen Stoff kaum gerecht wird. Ehlers-Kerbekian tat ihr bestes, spricht türkisch, singt armenisch, fühlt sich in die Person der Sabiha statt in die Rolle, und am Ende reichen ihre Mittel nicht zu einer großen Figur. Immerhin: ein großer Stoff jüngerer Gegenwart auf einer Berliner Bühne. Vielleicht schafft es das Stück auf eine größere mit reicheren künstlerischen Mitteln.
Scheitern ist zwar nun gar nichts Neues in der Menschheitsgeschichte – zur Mode wurde es meines Wissens noch nirgendwo erhoben, ausgenommen in Berlin durch zwei junge Männer namens Boris Joens und Sebastian Orlac. Sie veranstalten seit zehn Jahren eine »Show des Scheiterns«. Auf solche Ideen kann man wohl nur aus Verzweiflung kommen in einer Gesellschaft, die außer Profit- und Mehrwertgewinn überhaupt keine Ideen mehr hat. Joens und Orlac sehen Scheitern sogar als Chance und feiern »Schnapsideen«. Sicher greifen sie manches verrückte oder auch raumgreifende Unternehmen auf (zum Beispiel Raumfahrt-Unglücke), doch was soll das bringen? Warnung? Dazu zu unernst und oberflächlich! Belustigung, Hohn? Gegenstände zu tragisch! Die meist nur 100 Zuschauer belegen, daß diese Show ein eher faules Unternehmen ist. Das gibt Hoffnung in einer Gesellschaft, die freilich selbst Modell des Scheiterns ist.
Da lob ich mir eher solche hübschen Banalitäten wie den »Neuköllateralschaden« der Neuköllner Oper: Sechs aus einem Wettbewerb der Heinrich-Böll-Stiftung hervorgegangene Kandidaten unter Feridun Zaimoglu streiften sozusagen über Bordkanten und Hinterhöfe der Innenstadt, besonders Neuköllns, und spielten im Verlaufe eines Workshops, was sie so gesehen haben – eben, wie und wo das Leben so spielt und ist. Das war sozial ziemlich genau, das Scheitern ebenso (und viel besser als das der oben genannten) wie Gelingen und Glücklichsein, auch witzig, mit Musik von den beiden Bhattis. Regie hat Mona Kraushaar geführt – nicht schlecht! Ein prächtig Stücklein Realismus! Zum weiteren Programm dieses Hauses gehören die Brasilianische Bettleroper »Òpera do Molandro« (DEA) und eine sogenannte »Musiktherapie – Stimmen im Kopf« von Peter Lund und Wolfgang Böhmer.
Noch kaum zwei Jahrzehnte ist es her, seit in Europa nach fast einem halben Jahrhundert Frieden wieder Krieg war (1991–1995, Ende mit dem Abkommen von Dayton). Menschen versteckten sich auf dem Balkan vor NATO-Bomben in Kellern. Zur gleichen Zeit waren auch in Berlin Menschen in Kellern, doch aus anderen Gründen – unendlich banaleren: bei sogenannten Parties. Dieser Gegensatz liegt dem Stück »Frösche im heißen Wasser« zugrunde, von Susanna Chrudina, Branka Pavlovic und Filip Vujosevic auf der Basis von Dokumenten (Interviews, Sendungen, Präsidenten- und Kanzler-Reden, Plakaten et cetera) montiert. Es spielen serbische und deutsche Akteure, sie sprechen Deutsch, Englisch, Serbisch. Sinnigerweise fand dies so hochpolitische wie naive Theater in einer Disco namens Horst Kreuzberg am Tempelhofer Ufer statt. Mir mißfiel der Abend mit so wichtigem Stoff bei mittelmäßiger Inszenierung in dem allzu piefigen und verrauchten Lokal ganz und gar. Hier verkamen Politik, Elend, Tod und Zerstörung zu miesdekadentem Jux.
Eine Banalität besonderer Art stellte sich mit »Flow/Wasser« von »400asa Sektion Nord« aus Zürich in den Sophiensälen vor. Acht Personen langweilen uns mit Geplätscher über fast 100 Minuten. Dazu saß man unbequem und schmerzhaft auf Fußbodenmatten und miserablen Bänken. Sicher: Die Wasserfrage ist eine Weltfrage, eine des Überlebens der Menschheit. Doch so trivial behandelt? Irgendwie vermengen sich halb traumatische, halb harmonische Utopien mit entsetzlichen Alltagsbanalitäten, digital vernetzt. Hier wird Boden bereitet für jegliches Ohnmachtdenken des Menschen. Solche Verworrenheit als Theater auszugeben, beleidigt unsere Kunst, hemmt Widerstand.
Noch ein Blick, besser ein Horchen auf Atzes Musiktheater. Dies brachte in der Luxemburger Straße eine Kriminalgeschichte von Andreas Steinhöfel auf die Bühne: »Rico, Oskar und die Tiefenschatten«. Es ist die Geschichte von den zwei Knaben, dem »tiefbegabten« Rico und dem hochintelligenten, aber ängstlichen Oskar. Die beiden gehen auf Abenteuersuche und tun viel Gutes, haben Probleme und Ängste auch, doch das Ganze ist eine tiefhumane Angelegenheit, inzwischen nicht allzuoft anzutreffen auf Berliner Bühnen. Alle Darsteller und Musiker und ihr Leiter Thomas Sutter mit eigenen Liedertexten verdienen Lob. Den Spielern hat es Spaß gemacht und mir auch.