Zwischenruf zum 1. September (Arno Klönne)
Einhundert Jahre nach dem »Ausbruch der Urkatastrophe« – das Geschäft der Erinnerung daran hat jetzt seinen Höhepunkt überschritten. Die europäische Politprominenz konnte beteuern, man habe aus der Geschichte des Ersten und Zweiten Weltkrieges gelernt, Wiederholungen solcher Schrecknisse seien nicht zu befürchten, die Existenz der Europäischen Union bürge für Frieden. Aber in welchem Terrain besteht dieser, inwieweit behält er Bestand?
Am 1. September steht der Antikriegstag an, die Gewerkschaften haben ihn in ihrem Pflichtkalender notiert, massenhafte Beteiligung ist freilich nicht zu erwarten, und manche Betriebsräte der IG Metall haben ja auch anderes zu tun; sie sorgen sich um die Auftragsbücher von Rüstungsbetrieben in der Bundesrepublik. Deutschland dürfe, so fordern es viele Parteipolitiker, den Anschluß beim »wehrtechnologischen Fortschritt« nicht verpassen. Aber brauchen Waffen, wenn die Branche florieren soll, nicht immer mal wieder Verwendung in der Praxis?
Gelegenheiten dazu bietet die gegenwärtige Weltlage hinreichend. Selbstverständlich sollen kriegerische Aktivitäten »out of area« stattfinden, von der Bundesrepublik aus betrachtet. Das verschafft auch dem Appell, Deutschland dürfe sich nicht vor militärischer »Verantwortung« drücken, einen Anschein von Harmlosigkeit; die Waffengänge sind in die Ferne verlagert, und niemand hierzulande muß mit einer Generalmobilmachung rechnen. Beim Berufsmilitär liegt der kriegerische Job, und zunehmend ersetzen Maschinen das soldatische Handwerk.
Pazifisten, das erklärt nicht nur der Bundespräsident seinem Volk, sind Träumer; die Weltgeschichte kommt eben nicht ohne Waffengewalt aus, das ist ihrer Natur eingeschrieben. Allerdings: Bitte nicht vor unserer Haustür!
Afghanistan, der Irak, Syrien, Libyen, andere derzeitige oder vermutlich neu hinzukommende Einsatzgebiete – sie befinden sich in angenehmer Entfernung, das macht es hierzulande leicht, über die Gemetzel hinwegzusehen, sie archaischen Eigenschaften der dort heimischen Völkerschaften zuzuschreiben. Beim Konflikt um die Ukraine allerdings wird es den meisten Deutschen mulmig; der Gedanke an eine neue Ostfront hat etwas Beunruhigendes, da mögen die Leitartikler noch so sehr zum Kampf gegen Putin animieren.
Zwei Weltkriege waren genug, ein dritter wird nicht passieren?
Diese Einschätzung der geschichtlichen Lage ist täuschend und kurzsichtig. Nimmt man die Kriegsmaschinerien, die jetzt im globalen Raum in Betrieb sind, in eine Gesamtsicht, dann zeigt sich: Welt-Krieg findet statt, in einer gegenüber den beiden historischen Weltkriegen veränderten Form, zergliedert, mit wechselnden Fronten, in der neuen »Unübersichtlichkeit« der Postmoderne, weitflächig verbrannte Erde hinterlassend. Nachhaltige Verwüstung des gesellschaftlichen Lebens geschieht keineswegs in geringerem Grade als 1914–1918 und 1939–1945, nur nicht so auffällig, jedoch mit dem hohem Risiko einer stetigen Ausdehnung der Kampfplätze, die in ihrer Dramatik nicht wahrgenommen wird, außer von den unmittelbar Betroffenen, den Millionen von Menschen, die dann als »Opfer« bezeichnet werden, so als sei ihr Elend die unvermeidliche Gabe der Irdischen an ein göttliches, den Krieg bejahendes Wesen.
Der Gott des Krieges ist eine Erfindung, nicht nur von »Gotteskriegern«. Weitaus mehr noch von machtgierigen Politikern, von Profimilitärs, von Rüstungsprofiteuren. Seit jeher schon berufen diese sich darauf, sie seien ethisch motiviert, der Waffeneinsatz diene dem »Engagement für Menschenrechte«. Die Menschen selbst kommen dabei nicht in den Blick, das wäre »wehrkraftzersetzend«.
In der Fülle von Buchangeboten zum »Hundertsten« von 1914, darunter vielen Neuauflagen älterer Literatur, fehlt ein Werk, das als realistische Bilanz der sogenannten Urkatastrophe zuerst 1924 erschien; der Antimilitarist Ernst Friedrich dokumentierte darin fotografisch menschliches Leid, der auf dem »Feld der Ehre« Geschundenen, Verletzten, Verstümmelten, mit dem Tode Ringenden. »Krieg dem Kriege« war der Titel des Buches. Es ist derzeit nur antiquarisch zu beschaffen. Das ist bemerkenswert.