Auf einer Straße an der Küste Cornwalls fährt ein Auto der gehobenen Klasse, häufig eine deutsche Edelmarke. Am Ziel erhebt sich ein stattliches Anwesen mit üppigem Garten, manchmal auch Pferden. Die Protagonisten sind Rechtsanwälte, Ärzte, Makler oder Künstler. Den Leuten scheint es materiell gut zu gehen, aber ach, ein alter Erbstreit oder ein aktueller Liebeskummer führt zu dramatischen Wendungen, nach eineinhalb Stunden ist jedoch stets die Zeit reif fürs Happy-End. Eine typische Rosamunde-Pilcher-Verfilmung, wie sie im Deutschen Fernsehen häufig zu sehen ist. Der Deutsche verreist gerne, und so spielen etliche solcher Machwerke auch im sonnigen Süden oder in Skandinavien. Dabei fällt auf, daß dort alle dienstbaren Geister vom Hausmädchen bis zum Polizisten deutsch können. Seit Hedwig Couths-Mahler im Jahr 1904 ihren ersten Roman veröffentlicht hat, erfreut sich dieses realitätsferne Genre in der Literatur und später im Film steigender Beliebtheit, und das bis heute.
Mit der Erfindung der bewegten Bilder wurde schnell klar, welch eine Wirkungsmacht das neue Medium hat. 1914 war das erste Erfolgsjahr Charly Chap-lins, aber gleich danach wurde der Film schon in den Dienst der Kriegspropaganda gestellt. Das angeblich untrügliche Auge ist viel leichter zu beeindrucken als die übrigen Sinne, was sich übrigens bald auch die Werbung zunutze machte. Als in den 1920er Jahren der Tonfilm erfunden war, wurde das Kino zu einem Medium für die breiten Massen. Nur wenige Filme beschäftigten sich mit Vergangenheitsbewältigung. Dazu gehören »Der blaue Engel« von Josef von Sternberg oder der schon vor 1933 verbotene Streifen »Im Westen nichts Neues« des Amerikaners Lewis Milestone. Die UFA, seit 1927 Teil des kapitalstarken Hugenberg-Konzerns, konzentrierte sich auf bürgerliche Themen und produzierte die sogenannten Preußenfilme. Mit der Prometheus-Filmgesellschaft versuchte die politische Linke mit Filmen wie »Kuhle Wampe« oder »Mutter Krauses Fahrt ins Glück« die soziale Wirklichkeit der unteren Klassen darzustellen. Aber Produktion und Vertrieb waren aufwendig und kostspielig, die bürgerlichen Produzenten hatten wenig Interesse an der Finanzierung sozialkritischer Filme. Ab 1933 übernahmen die Nationalsozialisten die Filmproduktion und entwickelten den Film zum Leitmedium. In den zwölf Jahren der Naziherrschaft wurden nicht weniger als 1200 Spielfilme produziert und in über 8000 Kinos gezeigt. Vor allem in den letzten drei Kriegsjahren wurde den Zuschauern eine heile Welt mit glücklichen Menschen vorgeführt, weit weg von der Wirklichkeit. Nach dem Krieg gab es mit den Trümmer- und Heimkehrerfilmen einen kurzen Abstecher in die reale Welt. Doch mit kaltem Krieg und Wirtschaftswunder kamen in Westdeutschland auch die seichten Unterhaltungsfilme wieder, selbst Filme aus der Nazizeit wurden wieder gezeigt. Das Repertoire bestand hauptsächlich aus Heimatfilmen, Schlagerfilmen und Kriegsfilmen sowie plumpen Gesellschaftskomödien. Daneben drängten immer mehr amerikanische Produktionen auf den Markt, der klassische Western versprach Spannung und eine klare Einordnung von Gut und Böse.
Mit der Verbreitung des Fernsehens kamen die bewegten Bilder direkt ins Haus, die gesellschaftliche Realität hatte es weiter schwer. Einige Serien spielten im Kleinbürgertum, aber in die Abgründe der Arbeitsgesellschaft verirrte man sich in der Bundesrepublik nur selten. Lange Zeit waren auch die beliebten »Tatorte« im bürgerlichen Milieu verhaftet und ließen keinen Zweifel an der klassischen Rollenverteilung. Heute gibt es 32 verschiedene Tatorte beziehungsweise »Tatstädte«, da gibt es einen Zwang zur Diversifizierung. Während die einen auf witzige Dialoge oder reine Fiktion setzen, lassen andere mutig das Ende offen, oder die Kommissare scheitern gar an der Intervention wichtiger Politiker. Auch das Milieu ändert sich langsam, es werden Drogenabhängige, verarmte Alte oder Obdachlose einbezogen, manchmal sogar die Welt der Arbeit.
Auf Grund der in Europa einzigartigen Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland sind diese zu den wichtigsten Finanziers der Filmschaffenden geworden. Durch die frühere Rundfunkteilnehmergebühr und die seit 2013 existierende Rundfunksteuer verfügen die Sendeanstalten über Milliarden. Eine Macht, die sich auf Inhalte auswirkt. Seit 1984 das Privatfernsehen eingeführt wurde, gibt es zudem eine absurde Konkurrenz. Eigentlich sind die von Werbeeinnahmen weitgehend unabhängigen öffentlichen Anstalten auf keine Quote angewiesen. Dennoch agieren sie ganz wie Privatsender und richten ihr Angebot ebenso wie jene fast ausschließlich nach der Zuschauerquote. Der 2013 verstorbene Kabarettist Dieter Hildebrandt brachte es auf den Punkt: Er fühle sich durch die Umbenennung der GEZ-Gebühr in eine Haushaltsabgabe bestätigt, daß der Fernseher kein Kulturgerät, sondern ein Haushaltsgerät sei.
Mit der Abschaffung der letzten Sanktionsmöglichkeit des Zuschauers hat sich die Qualität weiter verschlechtert. Die Kanäle sind verstopft mit den immergleichen Schmonzetten der Damen Hörbiger, Ferres, Neubauer, um nur diese drei zu nennen. Courths-Mahlers Figuren feiern ein modernisiertes Comeback, meist mit dem Untertitel »Durch Leid zum Glück«. All diese an den Haaren herbeigezogenen Geschichtchen spielen in einem Milieu, in dem eventuell die Macher zu Hause sind, die meisten Zuschauer eher nicht. Manchmal gibt es Komödien, die aber meist so schlicht aufgebaut sind, daß man den Verdacht hat, der Regisseur habe den amerikanischen Markt im Auge gehabt.
Selbstverständlich gibt es Ausnahmen, vor allem nach 23 Uhr. Bisweilen bieten auch Arte und 3Sat Fluchtmöglichkeiten. 2005 wurde zur besten Sendezeit »In Sachen Kaminski« gezeigt. In diesem Film mit Matthias Brandt in der Hauptrolle geht es um Behördenwillkür gegenüber einem sozial benachteiligten Ehepaar, dem die Erziehungsfähigkeit für seine kleine Tochter aberkannt wird. Erst durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes kommen die beiden zu ihrem Recht. Ein Ausnahmefilm, der nur deshalb auf 20 Uhr 15 verlegt wurde, weil er einige Tage zuvor einen Preis bekommen hatte. 2009 lief die Komödie »Ein Schnitzel für drei«. Hier wird die harte Wirklichkeit von »Harz IV«-Empfängern zumindest in einigen Aspekten gestreift. Der Film wurde seither oft als Wiederholung gesendet, und letztes Jahr gab es sogar eine verunglückte Fortsetzung. Offensichtlich hatte dieser Film »eine gute Quote« ... 2011 kam der Film »Die Kriegerin« heraus. Er spielt im Milieu der Neonaziszene und gibt einen tiefen Einblick in die Gedankenwelt der Rechtsradikalen.
Werfen wir einen Blick nach Frankreich. Wer glaubt, daß das Fernsehen dort kulturell besser aufgestellt sei, muß enttäuscht werden: Das erste Programm, TF1, ist schon lange Privatbesitz des Bauunternehmers Bouygues, staatlich sind nur noch das zweite sowie die regionalen dritten. Im Gegensatz zu Deutschland hat Frankreich aber eine sehr produktive Filmindustrie, über 35 Prozent der dort gezeigten Filme sind in Frankreich gedreht, ein europäischer Rekord. Etliche Filme zeigen durchaus realistisch das Leben von Menschen, die nicht ins Erfolgsschema passen. 1985 erschien von Agnes Varda »Sans toit ni loi«. Die damals unbekannte Sandrine Bonnaire verkörperte eine junge Obdachlose, die Geschichte geht nicht gut aus. 1994 wurde »La Haine« (Der Haß) von Matthieu Kassovitz gezeigt. Der Film behandelt das perspektivlose Leben magrebinischer Jugendlicher in den Pariser Trabantenstädten. In »Ça commence aujourd'hui« (1999) geht es um einen Grundschuldirektor, der in einer von Arbeitslosigkeit geprägten Region versucht, das soziale Leben aufrechtzuerhalten. Selbst in dem Kassenschlager »Intouchables« (Ziemlich beste Freunde) von 2010 wird das triste Leben der Immigranten in den Vorstädten realistisch wiedergegeben.
In französischen Filmen gibt es oft das, was in Deutschland verächtlich »Sozialneid« genannt wird: Wer viel Geld hat, der soll es ruhig verschmerzen, wenn sein Reichtum umverteilt wird. So zum Beispiel in der dramatischen Komödie von Coline Serrau »Chaos« (2001). Oder im Fernsehfilm »La belle vie« (Das schöne Leben) von 2013. Eine eigenwillige Flucht aus einem elenden Leben in die Welt der Superreichen. Das übliche Klischee also, könnte man meinen. Nicht ganz. Die Heldin betrügt den Milliardär, für den sie arbeitet, und kann am Ende weiter das schöne Leben führen.