Der Umgang mit Flüchtlingen stellt in diesem Jahr sowohl Deutschland als auch die EU auf die Probe. Viel zu lange haben die politisch Verantwortlichen die Hände in den Schoß gelegt und versucht, sich um konkrete Zugeständnisse und den längst überfälligen Wandel in der Flüchtlingspolitik zu drücken.
Während die Außen- und auch einige Binnengrenzen der EU durch Absperrungen und Zäune sichtbarer werden als lange zuvor, versinkt die europäische Flüchtlingspolitik in Chaos und Uneinigkeit. Noch immer halten die Mitgliedstaaten am längst gescheiterten Dublin-System fest (unter anderen Zuständigkeitsregelungen für das Asylverfahren) und sperren sich gegenüber einer neuen, längst überfälligen Flüchtlingspolitik, die auf offenen Grenzen für Menschen in Not, auf einer menschenwürdigen Aufnahme von Flüchtlingen und auf deren Integration in Europa beruht. Von einem koordinierten und solidarischen Vorgehen, wie es von einer Staatengemeinschaft erwartet werden kann, ist nichts zu sehen. Es muss den derzeit klar im Vordergrund stehenden nationalstaatlichen Interessen weichen.
In Deutschland sehen sich Bund, Länder und Kommunen mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert – die meisten davon hausgemacht. Denn dass die Zahl der Flüchtlinge auch in Deutschland in den Sommermonaten noch einmal erheblich ansteigen würde, war lange abzusehen. Dennoch haben es die politisch Verantwortlichen versäumt, sich rechtzeitig um die Bereitstellung geeigneter Unterbringungsmöglichkeiten zu kümmern, so dass nun vielerorts auf Zeltlager und Turnhallen als Möglichkeit der Erstaufnahme zurückgegriffen wird – ein unhaltbarer Zustand, der sich weder mit einer menschenwürdigen Aufnahmepolitik noch mit den hierfür notwendigen Mindeststandards vereinbaren lässt.
Notwendig ist vor allem eine dauerhafte, strukturelle Entlastung der Länder und Kommunen durch den Bund bei der Flüchtlingsaufnahme. Diese setzt in erster Linie eine Übernahme der Unterbringungs- und Versorgungskosten bis zum Abschluss des Asylverfahrens sowie für eine gewisse darüber hinaus-gehende Übergangszeit voraus. Langfristige Ziele sollten eine dezentrale Unterbringung der Schutzsuchenden und eine private Wohnungsanmietung sein, unterstützt durch entsprechende Projekte im sozialen Wohnungsbau. Städte und Kommunen sollten sich auf ihre Kernkompetenz gegenüber Flüchtlingen konzentrieren können, nämlich diese zügig und doch nachhaltig in unsere Gesellschaft zu integrieren.
Deutschland ist auf Immigration angewiesen, das ist unter demografischen Experten eine unbestrittene Tatsache. Wir können uns nicht einerseits über Fachkräftemangel und ein rückläufiges Rentensystem beschweren und uns andererseits gegen die Chancen sperren, die sich aus der Zuwanderung von Flüchtlingen, deren Förderung und Integration ergeben.
Statt jedoch die Vorteile und Perspektiven einer weitsichtigen Flüchtlingspolitik in den Vordergrund zu stellen, bauen Teile der Politik und der Medien lieber Drohkulissen auf: Vermeintlicher Asylmissbrauch und angebliche Überlastung sowie »gute« und »schlechte« Flüchtlinge – so werden in gefährlicher Weise bestehende Ressentiments gegen Flüchtlinge in der Gesellschaft gefördert und rechten Straftätern Quasi-Legitimationen für ihre Hetze gegen Schutzsuchende geliefert. So finden wir uns derzeit in einem Deutschland wieder, wie wir es noch aus den 90er Jahren kennen: Flüchtlingsheime brennen, der Staat guckt scheinbar hilflos dabei zu. Dabei kann und muss Rassismus und rechter Gewalt entschieden entgegengewirkt werden, mit einer konsequenten Verfolgung der rechten Täter und einer aktiven Gegenbewegung, die Flüchtlinge willkommen heißt, gegen Vorurteile aufklärt und auch der Politik ein klares Signal setzt: Wir wollen Flüchtlingen helfen, wir wollen sie aufnehmen und integrieren! Das diesbezügliche gesellschaftliche Engagement von Bürgern und zivilgesellschaftlichen Akteuren muss öffentlich wertgeschätzt und gefördert werden.
Zwischen Flüchtlingen darf vor dem Abschluss einer unvoreingenommenen Einzelfallprüfung ihrer Flucht- und Asylgründe kein Unterschied gemacht werden. Hier findet in Deutschland leider gerade eine massive Ungleichbehandlung und diskriminierende Kategorisierung von Schutzsuchenden statt. Betroffen hiervon sind Flüchtlinge aus dem Westbalkan. Die Westbalkanstaaten leiden Jahre nach dem von Deutschland mitgeführten Krieg gegen Jugoslawien unter teils mafiösen Regierungsstrukturen, fehlender Rechtsstaatlichkeit und Massenverarmung in Folge der von EU und IWF erzwungen neoliberalen »Reformen«. Besonders Roma sind in den Staaten des Westbalkans einer existenzgefährdenden Ausgrenzung und ständiger Diskriminierung, aber auch physischen Angriffen ausgesetzt. Das EU-Protektorat Kosovo, aber auch Serbien, Albanien und Mazedonien sind keinesfalls die »sicheren Herkunftsländer«, als die sie und immer wieder verkauft werden sollen. Nun steht sogar eine Erweiterung der Liste der sogenannten sicheren Herkunftsstaaten im Raum, die nur dazu führen würde, dass noch mehr Asylersuchen von Westbalkanflüchtlingen im Schnellverfahren abgelehnt würden – und zwar ohne sorgfältige Einzelfallprüfung. Diese Praxis widerspricht bereits jetzt dem im Asylrecht geltenden Grundsatz einer gewissenhaften Einzelfallprüfung und darf nicht weiter um sich greifen. Weitergehende Verschärfungen im Asylrecht und eine Ausgrenzung der Westbalkanflüchtlinge aus dem Schutzbereich des Asylrechts gilt es unbedingt zu verhindern.
Die Sommerpause war in diesem Jahr mit Meldungen von auf der Flucht ums Leben gekommenen Schutzsuchenden, überfüllten Aufnahmestellen, Stacheldraht, Zäunen und Bildern von notleidenden und verzweifelten Flüchtlingen an den Außen- und Binnengrenzen der EU gefüllt. Nun, da sie zu Ende ist, werden sich die Fraktionen im Bundestag mit konkreten Strategien und Lösungen auseinandersetzen müssen. Noch vor dem Winter müssen langfristige Unterbringungs- und Finanzierungskonzepte stehen. Das Asylverfahren in Deutschland muss fair, aber auch zügiger gestaltet werden. Um dies zu ermöglichen, sind neben einer personellen Aufstockung vor allem eine großzügige Altfallregelung und eine Einstellung der teuren und überkommenen Dublin-Verfahren erforderlich. Neben einer menschenwürdigen Unterbringung erfordert die Integration von Flüchtlingen vor allem die Abschaffung diskriminierender Sondergesetze und Restriktionen. Per Gesetz muss für Flüchtlinge ein gleichberechtigter Zugang zum Gesundheitssystem und zum Arbeitsmarkt geschaffen werden. Deutschland wird nicht drum herumkommen, neue Wege zu gehen, um die aktuelle Flüchtlingskrise zu meistern. Wichtig ist es dabei, keine falschen und kurzsichtigen Abkürzungen zu nehmen, sondern die Herausforderung als Chance zu sehen, die letztendlich sowohl den Flüchtlingen als auch Deutschland echte Perspektiven bietet.
Und vergessen wir nicht: Flüchtlinge werden weiter in großer Zahl kommen, solange die Fluchtursachen weiterbestehen.