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Titel1815

Fluchtgrund kannibalische Weltordnung  (Georg Rammer)

Wir, also die westliche Wertegemeinschaft, sind natürlich wieder die Guten in einer chaotischen Welt. Kein Wunder, dass die Hungerleider der ganzen Erde in unseren verdienten Wohlstand strömen. Gern sind wir bereit, einigen wirklich Bedürftigen zu helfen, aber wir können doch nicht das Sozialamt der ganzen Welt sein! Soweit die Legenden, die uns Politiker und Mainstream-Medien unermüdlich erzählen. In ihrer Geschichte kommen keine imperialen Kriege und keine neokoloniale Ausbeutung vor und schon gar nicht die »kannibalische Weltordnung« (Jean Ziegler) oder gar der »Western Terrorism« (Noam Chomsky). Sicher wird in hundert Jahren ein neuer Christopher Clark über die »Schlafwandler« (s. Ossietzky 22/2013) fabulieren, nämlich die westlichen Eliten von 2015, die in ein unabwendbares Unglück hineingestolpert seien.


Ja, die Welt befindet sich in einem bedrohten und einem bedrohlichen Zustand. Im Jahr 2010 gab es nach Angaben der Hilfsorganisation medico international weltweit 363 bewaffnete Konflikte; 85 dieser militärischen Auseinandersetzungen fanden im subsaharischen Afrika statt, meist um den Zugriff auf Ressourcen. 2014 befanden sich laut UNO-Flüchtlingshilfe (UNHCR) knapp 60 Millionen Menschen auf der Flucht, darunter im Irak vier Millionen, in Afghanistan 3,7, in Syrien fast die Hälfte der Bevölkerung, nämlich elf Millionen Menschen. Seit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Länder sind etwa 300 Millionen Menschen an Hunger gestorben. Offensichtlich suchen die wohlhabenden Länder ihr Heil in Abschottung und Abwehr: Während 1989 weltweit 16 große Sperranlagen für Schutz vor Elend oder den Elenden sorgen sollten, sind es heute 65: Tausende Kilometer Mauern und Stacheldraht.


Europa ist dabei, die Hunderttausende aus den Kriegs- und Hungerregionen der Welt abzuwehren, abzuschrecken, mit allen Mitteln fernzuhalten. Die Genfer Flüchtlingskonvention ist nur noch Papier. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex kann im Kampf gegen irreguläre Einwanderer auf modernstes Kriegsgerät zurückgreifen. Die Bundeswehr bekämpft vor der Küste Nordafrikas mit Kriegsschiffen die Schlauchboote, mit denen die Hoffnungslosen nach Europa zu fliehen versuchen. Bei dem Versuch sind schon Zehntausende im Mittelmeer ertrunken, allein im ersten Halbjahr 2015 waren es über 2100 Menschen.


Mauern und Zäune, Kriegsgerät und menschenunwürdige Auffanglager werden Menschen, die sonst nicht überleben können, nicht davon abhalten, sich unter Lebensgefahr auf den Weg nach Europa zu machen. Aber sogar bei empathischen, engagierten Menschen macht sich Ratlosigkeit breit: Die Zahl der Flüchtenden wächst exponential, das schafft doch soziale Spannungen – was könnte die Lösung sein? Die Antwort ist klar: Es gibt keine schnelle und einfache Lösung. Eine Politik, die wirksam und aufrichtig die Lage verändern wollte, müsste erst mal die Fluchtursachen zur Kenntnis nehmen. Und um diese zu beseitigen, wäre eine radikale Abkehr von der Politik der rücksichtslosen Durchsetzung der Kapitalinteressen fällig. Denn seit der Aufteilung der halben Welt in zur Ausbeutung freigegebene Kolonien haben sich zwar die Methoden und die Begründungen verändert, nicht aber das Ziel: Wir, die westliche Wertegemeinschaft, die sich auf das militärische Potential der NATO stützt, wollen Absatzmärkte für unsere Wirtschaft, sichere und billige Ressourcen und strategische Vorteile zum Ausbau von Macht und Kontrolle.


Über die Lügen, die Angriffskriege, die Missachtung von Völkerrecht, UN und Menschenrechten – ist schon oft berichtet worden. Bekannt ist ebenso, dass die Länder, die durch Kriege verwüstet und in verheerendes Chaos gestürzt wurden, auch nach Jahren den Menschen wenig Chancen zu einer sicheren Existenz bieten. Allerdings ist der Wirtschaftskrieg, der Hunderten von Millionen Betroffenen die Lebensgrundlagen entzieht, genauso bedrohlich.


Im Juli diesen Jahres fand in Addis Abeba die UN-Entwicklungskonferenz statt. Die großen Wirtschaftsmächte wollten dabei erreichen, dass die armen Länder für multinationale Konzerne bessere Bedingungen, ein günstiges Umfeld schaffen. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der marktwirtschaftlich orientierte Zusammenschluss der reichen Länder, gibt zwar zu, dass den Staaten des Südens allein durch Steuerhinterziehung und -vermeidung der Konzerne das Dreifache dessen entzogen wird, was sie an »Entwicklungshilfe« bekommen. Aber das reicht nicht. Und weil der Widerstand der armen Staaten gegen die Dominanz der EU und der USA wächst, werden neue rechtliche Grundlagen für die Ausbeutung geschaffen.


Die EU hat im letzten Jahr mit zahlreichen Ländern Afrikas und der Karibik so genannte EPAs abgeschlossen; die Abkürzung steht für Economic Partnership Agreement. Dabei handelt es sich allerdings weder um Partnerschaft noch um Übereinkunft, sondern um eine Form wirtschaftlicher Erpressung. Als sich etwa Kenia gegen die ungleichen, räuberischen Verträge wehrte, bekam das Land die Daumenschrauben angelegt: Die EU erhob auf die wichtigsten Exportartikel wie Kaffee, Tee und Schnittblumen einen Zoll, was Kenia rasch zur Unterschrift und Unterwerfung zwang. Dennoch besiegelt der Staat Kenia damit den eigenen wirtschaftlichen Untergang: Gegen das teilweise hoch subventionierte Obst und Gemüse aus der EU kann die heimische Landwirtschaft nicht konkurrieren. Derart »partnerschaftliche Verträge« wurden 2014 mit 16 westafrikanischen Ländern abgeschlossen, dann mit sechs Staaten des südlichen Afrika, schließlich mit der Ostafrikanischen Gemeinschaft.


Marktöffnung, Liberalisierung, Steuersenkung sind die probaten Mittel der EU gegen wirtschaftlich schwächere Staaten. Die dadurch ermöglichten Direktinvestitionen haben katastrophale soziale und ökologische Folgen. Sogar die OECD spricht von einem Unterbietungswettbewerb zur Senkung der Standards in diesen Bereichen. Während die EU ihre landwirtschaftliche Überproduktion in Afrika absetzt (etwa 40 Prozent des europäischen Hühnerfleisches landet dort), verlieren die Kleinbauern ihre Lebensgrundlage. Während hoch industrialisierte Fischfangflotten das Meer vor Afrika leerfischen, hungern die Menschen in den küstennahen Regionen, denn die Fischer bringen nichts mehr heim. Nicht wenige begeben sich auf den gefahrvollen Fluchtweg nach Europa.


Während also die EU mit Deutschland als Führungsmacht mit Kanada und den USA – gegen harten Widerstand aus der Bevölkerung – dem transatlantischen Freihandel mit TTIP und CETA eine neue weltbeherrschende Basis verschaffen will, wird die Vormachtstellung in anderen Erdteilen schon voll ausgespielt. Das ist nichts Neues. Über »Strukturanpassungsprogramme« haben IWF, Weltbank und WTO zahlreichen Staaten immer wieder neoliberale »Reformen« aufgezwungen. Ziel war in allen Fällen die Globalisierung des Neoliberalismus für die uneingeschränkte Mobilität des Kapitals. Bedingung für dringend benötigte Kredite war jeweils die Öffnung der Märkte, die Errichtung von Freihandelszonen für Waren und Dienstleistungen – in den meisten Fällen mit der Folge wachsender Armut und Ungleichheit, mit dem Abbau ohnehin schwacher sozialer und ökologischer Standards; Arbeitnehmer- und Menschenrechte, die Menschen waren kein Thema. Lokale Märkte wurden damit zugunsten der Profite der Großkonzerne zerstört, eine eigenständige Wirtschafts- und Sozialpolitik konnte es nicht geben. In den Ländern profitierte allenfalls eine dünne Schicht korrupter Eliten, während die Lebensgrundlage für die meisten Menschen immer brüchiger wurde.


Auch untereinander müssen die verarmten Länder durch Lohndumping und sinkende Steuern noch um günstige Angebotsbedingungen für das Kapital konkurrieren. Der Schuldendienst wird zu einem nicht mehr lösbaren Problem. Deshalb sehen sich dortige Unternehmen gezwungen, vorrangig für den Export zu produzieren; der Preisverfall auf den internationalen Märkten für natürliche Ressourcen und landwirtschaftliche Produkte stellt dann rasch eine existenzielle Bedrohung dar.


Politiker in Deutschland reden aber weiterhin von »Wohlstandsflüchtlingen«, von massenhaftem »Asylmissbrauch«, wollen Wartezonen in Griechenland und Italien errichten, um Flüchtlinge schneller »zurückführen« zu können. Bayern will »Abschiebelager« für Menschen aus dem »Westbalkan« schaffen; gemeint sind Roma aus »sicheren Herkunftsländern«. Der Historiker Wolfgang Wippermann weist darauf hin (Freitag, 13.8.15), dass auch schon in der Weimarer Republik solche Abschiebelager für jüdische Flüchtlinge aus Osteuropa gebaut wurden – damals wie heute mit Zustimmung der Sozialdemokraten. »Diese wurden offiziell ›Konzentrationslager‹ genannt und auf deutschem Staatsgebiet betrieben (in deutschen Kolonien auf afrikanischem Boden hatte es schon vor dem Ersten Weltkrieg ›Konzentrationslager‹ gegeben).«


Der deutsche Innenminister de Maizière sagt: »Wir brauchen eine europäische Debatte über Standards der Menschenwürde ...« Die Forderung des Christdemokraten löst keinen Aufschrei im Land aus, auch wenn man weiß, dass die Standards der Menschenwürde für die Ware Mensch in diesem totalitären Wirtschaftssystem ohnehin schon gegen Null tendieren. Dagegen haben die Neofaschisten in Deutschland und Europa die flüchtlingsfeindlichen Sprüche der Politiker gern aufgegriffen und in die Tat umgesetzt. Im ersten Halbjahr 2015 wurden über 200 Gewalttaten gegen Flüchtlingsheime verübt, im letzten Jahr gab es nach Daten des Bundesinnenministeriums 1029 Fälle von »rechtsextremistisch motivierter Gewalt«.


Dieses System bemisst die Wertigkeit des Menschen nach Nützlichkeit und Effizienz, heißt gut ausgebildete junge Leute aus dem ausgebluteten Griechenland oder Spanien als Humankapital willkommen, während die Menschen ohne Marktwert mit Kriegsschiffen bekämpft und dem Tod überlassen werden. »Diese Wirtschaft tötet.« Aber die Täter kommen nicht vor den Internationalen Gerichtshof, sondern in führende Funktionen von Wirtschaft und Politik.