Sein Sergeant wusste es genau: »Das ist ein wertloser Mann.« Tommo Peaceful hatte den Befehl verweigert – den er für »unsinnig und selbstmörderisch« hielt: den Befehl zu töten. Was ja die Aufgabe eines Soldaten ist. Tommo wollte bei seinem Bruder Charly bleiben, der im Sterben lag. Die Verhandlung vor dem Kriegsgericht dauerte nur eine Stunde.
England, mitten im Ersten Weltkrieg. Wir sitzen in Hamburg in den Kammerspielen: deutschsprachige Erstaufführung von »Private Peaceful«, ein Stück von Michael Morpurgo in der Übersetzung von Bernd Schmidt. Regie: Martin Dueller und Robert Stadlober, der auch der einzige Schauspieler ist. Die Live-Musik von Andreas Spechtl, genauso wichtig, erzeugt die bedrückende Atmosphäre, auch durch Geräusche, als habe er die unterschiedlichen Pfeiftöne von Gewehrkugeln und Granaten studiert. Es kann wie Riesenmücken klingen. Tommo Peaceful weiß schon bald: »Ich bin viele.« Bewundernd ist er den roten Uniformen der Soldaten bis zum Marktplatz nachgelaufen. Noch nie war er in einem anderen Land. Verlockungen. Die Frage: Wer meldet sich freiwillig? Er rennt nach Hause.
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Söldner werden
Er ist Rettungsschwimmer,
freundlich, ehrenamtlich.
Erst einmal Abitur und dann –
Bundeswehr.
Angst hat er nicht,
schon im Klinik-Praktikum
zerfetzte Halbtote gesehen,
Verkehrsunfallopfer.
Mit Waffen umgehen lernen,
Führerschein machen,
den Flugschein vielleicht.
Auslandeinsatz? Nur allzu gern.
Angst hat er nicht, niemals
wird er traumatisiert
heimkommen. Da würde ihm
sein Vater was erzählen.
Verantwortungsvoll beobachtet
er die Badenden, stolz auf seine
Perspektive. Lässt keinen
Einwand gelten, verschließt das
Gesicht mit der Sonnenbrille.
Freiwillig – und gut bezahlt –
wird er schießen, erschießen,
erschossen werden, Bomben
abwerfen, Minen legen,
Täter sein und Opfer.
Renate Schoof
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Wird als »Feigling« beschimpft von den Kameraden. Bis er da landet, wo er nicht hinwollte, auf dem Schlachtfeld. Vieles erinnert an Remarques »Im Westen nichts Neues«. So die quälend genau geschilderten Grausamkeiten, die mitten hineinführen in den Kampf, den Peaceful nicht will.
Aufragende spitze Zinnen – Eisberge oder künstliche Abgrenzungen (Ausstattung: Astrid Noventa) reichen aus, der ständigen Gefahr, aber auch der inneren Zerrissenheit und Einsamkeit der Soldaten einen Raum zu geben.
Problem: Ein einziger Schauspieler ist der Erzähler von Kindheitserinnerungen, von realen Kriegserlebnissen, von der ersten Liebe. Dann wieder führt er Selbstgespräche, breitet seine Gedanken aus, Zweifel, die ihn quälen. In solchen Momenten wendet er sich nach hinten, spricht zur Wand, sein Gesicht, nicht zu sehen. Dort, wo auch der Musiker die Empfindungen hörbar macht, oft als Echo. Oder das Herumgehetztwerden ausdrückt. Sätze, die auf Peaceful einprasseln und im Kopf widerhallen: »Du bist ein unwertes Menschenmaterial« stoßen ihn immer tiefer in Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit. Wie wichtig die einfachen Dinge werden: Stiefel, um zu überleben. Erinnerungen an den Vater. (Stadlobers Großvater war im kommunistischen Untergrund und inhaftiert, verriet der Enkel in einem Fernsehgespräch.) Dinge: das an den Händen festgefrorene Essgeschirr eines Kameraden – dann unerträgliche Hitze, aber Baden war verboten.
Es gibt keine Frau auf der Bühne, nur in Form eines Videos, das hinten undeutlich aufscheint: ein Kopf, wehendes langes Haar. Die Freundin Molly? Weit weg, unerreichbar. Irgendwann kommt ein Brief, in dem sie von einem gesunden Jungen berichtet, der geboren wurde. Briefe, die im Feld eintreffen, erreichen oft ihre Empfänger nicht mehr. Beim Verteilen ruft der Sergeant sehr laut, schmerzhaft: »Ist tot!«, immer wieder: »Ist tot!« Die Gewöhnung, die in Abstumpfung mündet. So sehr, dass Peaceful sich nach einem Schusswechsel sehnt: »Endlich mal wieder jemanden abschießen können.« Gefangene werden gemacht, an Betten gefesselt und gefoltert. »Wir fesselten«, sagt der Soldat, aber es war doch ein Auftrag, keine Schuld? Die Augen des Feindes – ganz nah. »Ich weiß nicht, ob ich jemanden erschossen habe« – beruhigt die Unklarheit? Hinten auf der Bühne stapeln sich Bretter, vielleicht Särge, Peaceful klettert darauf herum. Dann ein Ruf: »Gas, Gas!« Du darfst nicht atmen, aber die Maske rutscht vom Gesicht. Und er atmete, die Augen tränten.
Nach einem Gemetzel sitzen Soldaten, jeder allein an einem Tisch in der Kneipe beim Wodka. Sehr einsam. Tommo Peaceful, noch den grauenhaft süßlichen Geruch von Leichen in der Nase, denkt hier das erste Mal an Fahnenflucht. Und gleichzeitig an Frühling, merkwürdigerweise an Rhabarber. Rauch steigt auf, alles ist vernebelt. Die Feldpolizei sammelt die Erschossenen ein. Nur noch Angst beherrscht Peaceful, Angst vor Panzern, vor Kugeln, allgemeine ständige Angst. »Ich will, dass das aufhört!« schreit er, »sei verflucht, Scheiß-Krieg!«
Der Soldat findet sich am Boden wieder, Nacht? Nein, das Dunkel ist Erde, die ihn bedeckt, er spuckt, rieselnder Sand. Lebendig begraben. Er will nun »einfach nur da sein«. Der Musiker übernimmt das Mikro, sagt bedeutungsvoll kryptische Worte und: »Vielleicht ist das erste Opfer des Krieges nicht die Wahrheit, sondern die Realität.«
»Sie verweigern meine Befehle, Peaceful.« Der sagt: »Nein.« Ein grundsätzliches Nein, so wie es Ida Ehre einst so flammend vortrug, ein Nein gegen den Krieg. Ida Ehre, die die Kammerspiele gründete und lange Jahre leitete. Und der junge Soldat Tommo Peaceful wird vors Kriegsgericht gestellt. »Sie sind das Erschießungskommando gar nicht wert«, wettert der Sergeant.
Musiker Andreas Spechtl und Robert Stadlober ließen die Zuschauer das Gemetzel des Kampfes hautnah spüren, Angst und Abscheu mitfühlen. Im Programmheft äußert sich der Regisseur Martin Dueller über Desertion. Die Anklage laute fast immer: »Feigheit vor dem Feind.« Denn würde der »Grund, einen Befehl zu verweigern«, anerkannt, »würde man der gesamten Kriegshandlung die Legitimität absprechen«.