In einer Talkshow von NBC Universal beklagte jüngst ein Teilnehmer, dass es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten kein Poster gebe, dass die von Putins Russland ausgehenden Gefahren anschaulich und überzeugend darstellen und die Betrachter wachrütteln würde. Dem Mann kann geholfen werden. Er braucht sich nur an die Filiale der Konrad-Adenauer-Stiftung zu wenden und sich das Plakat mailen zu lassen, mit dem der Namensgeber der Stiftung 1972 in den Wahlkampf zog. Es zeigt zentral-perspektivisch angeordnete Balken, natürlich in der Schreckfarbe Rot, die auf das drohende Antlitz eines übergroßen russischen Soldaten mit Unheil verkündenden weit geöffneten Augen zulaufen. Hunderttausendfach verbreitet, verfehlte es seine Wirkung nicht. Die russische Gefahr war sichtbar geworden und die Adenauer-Partei gewann 44,9 Prozent der Stimmen. Ein solches Plakat könnte auch den führenden US-amerikanischen Militärs helfen, die nimmermüde die von Russland ausgehenden Gefahren beschwören und in dem Land die größte Bedrohung für God‘s Own Country sehen.
Ein kurzer Gang ins Internet zeigt, dass die Liste der Bedrohungsbeschwörer lang ist. Hier eine kleine Auswahl: Nach Ansicht des US-Verteidigungsministers, Ashton Carter, stellt Russland eine »sehr, sehr ernsthafte Bedrohung« dar. Die USA müssten ihre militärischen Kapazitäten an der russischen Aggression ausrichten, weshalb die USA zur »Abschreckung« ihre Kräfte gemeinsam mit der NATO an der Ostflanke des Bündnisses in einer Weise neu ausrichten, wie es das seit dem Endes des Kalten Krieges nicht mehr gegeben habe. Zuvor hatte bereits der Oberbefehlshaber der NATO in Europa, US-General Philip Breedlove, Russland als Hauptgefahr für das Bündnis bezeichnet. Nach seiner Ansicht befindet sich Europa durch den Ukraine-Konflikt in einer »neuen und veränderten und schwierigeren« Sicherheitslage. Russland versuche, die Regeln und Grundsätze im Osten zu ändern, die jahrzehntelang das Fundament der europäischen Sicherheit gewesen seien. Anfang Juli erklärte der designierte US-Generalstabschef, Joseph Dunford, bei einer Anhörung im US-Kongress, Russland stelle die »größte Bedrohung für unsere nationale Sicherheit dar« und sei »eine existenzielle Bedrohung für die Vereinigten Staaten«. Diese Position vertrat auch die für die US-Luftstreitkräfte zuständige Staatssekretärin, Deborah James, in einem Interview der Nachrichtenagentur Reuters: »Ich betrachte Russland als größte Bedrohung.« Die USA müssten deswegen ihre Militärpräsenz in Europa ausbauen. Und der Ex-Stabschef des US-Heeres, General Raymond Odierno sekundierte: Russland gehöre zu den »besonders gefährlichen Ländern« für die USA. »Ich denke, Russland stellt aus mehreren Gründen eine Bedrohung dar. Vor allem deshalb, weil es besser vorbereitet ist als unsere anderen potentiellen Gegner.«
Aber es sind bei weitem nicht nur die Militärs, die vor der russischen Gefahr warnen. Schon vor einem Jahr hatte US-Präsident Barack Obama vor dem »aggressiven Kurs« Russlands, »der eine Gefahr für die Welt ist«, gewarnt. Und des Friedensnobelpreisträgers frühere langjährige Außenministerin und eventuelle Nachfolgerin im Weißen Haus, Hillary Clinton, zog gar eine Parallele zwischen Wladimir Putin und Adolf Hitler. Sie erklärte, dass »Russland in Osteuropa etwa das Gleiche wie Hitler in den 1930er-Jahren tat«. Als Journalisten des französischen TV-Senders TF1 und des Radiosenders Europe 1 Putin um eine Stellungnahme baten, gab dieser – nebenbei sei es erwähnt – eine Antwort, die weder Frau Clinton noch die Freunde von Alice Schwarzer erfreut haben dürfte. Er meinte: »Mit Frauen sollte man sich lieber nicht streiten. Frau Clinton zeichnete sich auch früher nicht durch eine besonders elegante Wortwahl aus. Dennoch trafen wir uns danach und unterhielten uns bei verschiedenen internationalen Veranstaltungen ziemlich nett ...Wenn Menschen eine bestimmte Grenze der Anständigkeit übertreten, zeugt das nicht von ihrer Stärke, sondern von ihrer Schwäche. Für eine Frau ist Schwäche eine gar nicht so schlechte Eigenschaft.« Und Putin fügte hinzu: »Es ist wohl kein Geheimnis, dass die Vereinigten Staaten am aggressivsten und am härtesten vorgehen, wenn es sich um den Schutz ihrer Interessen handelt.«
Doch zurück zur Washingtoner Bedrohungsneurose. Wovor fürchten sich die US-Militärs und ihre zivilen Vorgesetzten? Hat die National Security Agency (NSA) etwa in Erfahrung gebracht, dass Moskau ganz im Geheimen die USA militärisch eingekreist, in der Arktis, auf den Kurilen und wieder auf Kuba Stützpunkte errichtet hat, von denen aus sie ihre Topol-Raketen zielgenau auf die USA abfeuern können? Hat der Kreml unter dem Vorwand, sich vor iranischen und israelischen Kernwaffen schützen zu wollen, Raketenabwehrschirme in Nordkorea und Weißrussland installiert? Sind die Russen etwa schon dabei, die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) in einen gegen die USA gerichteten Militärpakt zu verwandeln? Plant Putin die Rückführung Alaskas – das Zar Alexander II. 1867 für 7,2 Millionen Dollar an die Vereinigten Staaten verhökert hatte – in das russische Reich? Da das alles Hirngespinste sind, auf die nicht einmal die NSA kommt, wo sind dann die Gründe für das in Washington grassierende Bedrohungsszenarium zu suchen?
Die USA gebärden sich seit Ende des Zweiten Weltkrieges, seit den Machtdemonstrationen mit den barbarischen, verbrecherischen Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki als Weltgendarm und unangreifbarer Hort imperialer Macht. Und nun, da die Sowjetunion dank des versoffenen Boris Jelzin als Widerpart das Zeitliche gesegnet hat, wirft sich Russland unter Putin in die Brust und bietet dem unbesiegbaren Weltenherrscher Paroli. Es stützt sich dabei nicht allein auf die noch immer im Umbruch begriffene Armee, die den Streitkräften der von den USA geführten NATO allein schon zahlenmäßig unterlegen ist, auch nicht auf sein modernisiertes konventionelles Waffenarsenal, sondern auf seine gewaltige Atomstreitmacht. Nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri verfügt Russland unter den Atommächten der Welt über die meisten Nuklearwaffen. Ihre Gesamtzahl sank zwar im Vergleich der Jahre 2014 und 2015 von 8000 auf 7500 Stück, die Zahl der einsatzbereiten Sprengköpfe jedoch stieg von 1600 auf 1780 Stück. (Nach der gleichen Quelle besitzen die USA 7260 dieser todbringenden Waffen, von denen 2080 jederzeit einsatzbereit sind.) Selbst im Falle eines massiven Nuklearangriffes auf Russland verfügt das Land über eine atomare Zweitschlagkapazität, die den angreifenden Staat nach der Maxime »wer zuerst schießt, stirbt als zweiter« vernichten würde. Diese Tatsache ist es, die das Weiße Haus und vor allem die Generäle im Pentagon fürchten und als »russische Gefahr« betrachten. Der Vier-Sterne-General Mark Alexander Milley, seit 15. August des Jahres Stabschef des US-Heeres, fasste diese Bedrohung in die Worte: »Russland ist das einzige Land auf der Erde, das über ein Kernwaffenpotential verfügt, das für die Vernichtung der USA ausreichen würde.«
Wenn das die Hauptsorge der Herrschenden in den USA ist, was läge denn dann näher als eine schrittweise, international streng kontrollierte atomare Abrüstung auf beiden Seiten und durch alle über nukleare Waffen verfügenden Staaten? Die USA und Russland brauchten nur auf den Pfad zurückzukehren, den sie unter anderem mit den Verträgen Start I, II und III (Strategic Arms Reduction Treaty) zaghaft beschritten haben. Zurzeit sieht es aber nicht so aus. Im Gegenteil, Washington und Moskau modernisieren ihre nuklearen Waffenarsenale. Und so bleibt die Frage, wie lange noch an der Spirale der atomaren Aufrüstung gedreht werden wird? Gegenwärtig, da mit dem Ukraine-Konflikt der Kalte Krieg zwischen der NATO und Russland zurückgekehrt ist, besteht so gut wie keine Aussicht, dass den zahllosen Appellen nach nuklearer Abrüstung, darunter der Ende des vergangenen Jahres erhobenen Forderung der Friedensnobelpreisträger, »so schnell wie möglich Verhandlungen über ein Abkommen zu einem Verbot von Atomwaffen aufzunehmen … und der globalen Bedrohung durch Atomwaffen ein Ende zu setzen«, nachgekommen wird. So leben denn die Menschen dieser unserer Welt weiter auf einem Pulverfass, das sich Erde nennt. Als Ausweg bliebe nur die Flucht auf den jüngst entdeckten erdähnlichen Planeten mit dem sperrigen Namen »Kepler-452b«. Allerdings ist er arg weit entfernt – 1400 Lichtjahre.