Am 17. September 2016 müssen wir – wie jedes Jahr am dritten Samstag im September – lautstark unseren Protest auf die Straße tragen. Denn dann marschieren sie wieder, die selbsternannten »Lebensschützer« mit ihrem »Marsch für das Leben« in Berlin. Aufgerufen zu diesem Marsch haben der Bundesverband Lebensrecht e. V. (BVL) und zahlreiche christlich-fundamentalistische und evangelikale Organisationen, »neue Rechte« und homophobe GegnerInnen des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung. Das können und dürfen wir nicht unwidersprochen lassen.
Mit 1000 weißen Holzkreuzen wollen sie auf die (angeblich) in Deutschland täglich abgetriebenen 1000 Kinder aufmerksam machen. Mit dem Motto: »Ja zum Leben – für ein Europa ohne Abtreibung und Euthanasie« setzen sie Euthanasie und Sterbehilfe sowie Abtreibung und Mord gleich. Der BVL will sich »für den Schutz des Lebensrechts jedes Menschen von der Zeugung bis zum natürlichen Tod« einzusetzen. Schwangerschaftsabbrüche sind für ihn »vorgeburtliche Kinds-tötungen«. Er tritt weltweit für ein ausnahmsloses Verbot von Abtreibungen ein. Den AbtreibungsgegnerInnen geht es darum, Macht über den Körper der Frauen auszuüben. Meist bringen sie demografische Argumente ins Spiel, verweisen auf die niedrige Geburtenrate, weshalb Deutschland aussterben werde und auf Staatsbürger- und Menschenrechte, die Föten zu Teil werden sollen. Jede Organisation, die durch ihre Beratungsarbeit Frauen darin unterstützt, sich selbst für oder gegen eine Schwangerschaft zu entscheiden, wird der Beihilfe zur Kindstötung beschuldigt, weil nur Gott allein über Leben und Tod bestimmen kann und nicht der Mensch. Gott muss sich weder mit den Umständen noch den Folgen einer ungewollten Schwangerschaft auseinandersetzen.
Weltweit sterben jährlich circa 47.000 Frauennach illegalisierten Abtreibungen. Durch restriktive Gesetze fällt der Schwangerschaftsabbruch der Klassenjustiz anheim. Während sich vermögende Frauen eine medizinisch einwandfreie Abtreibung leisten können, wird sie für arme Frauen zum sozialen und gesundheitlichen Risiko.
Durch die Wahlerfolge der Alternative für Deutschland bekamen die selbsternannten »Lebensschützer« neuen Auftrieb. Im Europaparlament und fünf Länderparlamenten kämpfen sie gegen Abtreibung, »Genderei«, Feminismus, Sexualaufklärung und Homosexualität. Im letzten Jahr warben sie für eine »Willkommenskultur für Neu- und Ungeborene«. Die doppelte Botschaft ist leicht zu erraten.
Heterosexualität wird als »natürliche Lebensweise« angenommen, weil nur zielführende Sexualität, die auf Fortpflanzung ausgerichtet ist, geboten ist. Damit werden Lebensentwürfe, die nicht dem Bild der bürgerlichen Familie mit Vater, sorgender Hausfrauenmutter und möglichst mehreren eigenen Kindern entsprechen, diskriminiert.
Selbsternannte Lebensschützer kann man nicht einfach rechts liegen lassen. Sie werden immer einflussreicher und zahlreicher. Und sie beschränken ihre Aktivitäten nicht auf die Märsche. Zum Beispiel bekamen sie viel Raum auf der »Kirchenmeile« und bei den Veranstaltung des letzten Katholikentages im Mai 2016 in Leipzig, um ihre Positionen zu verbreiten. Auch jetzt in Berlin wird der »Marsch für das Leben« von Grußworten von Vertretern der Amtskirchen, Mitgliedern des Bundestages und des Europäischen Parlaments begleitet sein. Sie alle sind voll des Lobes für den Einsatz der FundamentalistInnen. Die einzige Frau, die 2015 ein Grußwort sendete war Kati Engel (MdL). Sie schrieb: »Hackt’s bei Ihnen?! (…). Aber wenn [ich da sein könnte], dann wäre ich sicherlich bei dem Aktionstag »Leben und Lieben ohne Bevormundung«. Sie meinte den Aktionstag des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung.
Das »Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung«, dem über 32 Verbände und Organisationen angehören, stellt sich unter dem Motto »Mein Körper. Meine Verantwortung. Meine Entscheidung. Leben und Lieben ohne Bevormundung. Sexuelle Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht!« dem Kreuze-Zug um 13.30 Uhr zur Auftaktkundgebung am Brandenburger Tor entgegen und zieht um 14.30 Uhr weiter in Richtung Alexanderplatz. Kommt massenhaft!
Gisela Notz lebt und arbeitet in Berlin, sie war zwischen 2004 und 2010 Bundesvorsitzende von pro familia. Sie schrieb das Buch »Kritik des Familismus. Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes«, Schmetterling Verlag, 2015.