Eine zunehmende Anzahl von Menschen in hochindustrialisierten Ländern, die sich als Lebenspartner_innen zusammentun, nutzt Angebote der Reproduktionsmedizin und der mit ihnen verbundenen Dienstleistungsgewerbe, um sich ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Die Gruppe der »Wunscheltern« wird durch die Möglichkeiten, die diese relativ neuen Gewerbe anbieten, erweitert um jene Menschen – soziostrukturell meist den Mittelschichten zuzuordnen –, die auf dem biologisch vorgegebenen natürlichen Wege keine Kinder bekommen können und für die auch die Adoption oder Übernahme einer Pflegschaft wegen rechtlicher Hindernisse nicht möglich ist oder aus anderen Gründen als Alternative nicht in Frage kommt.
Die meisten der auf natürlichem Wege gezeugten und zur Welt kommenden Kinder sind vermutlich keine Wunschkinder in diesem Sinne. Der Kinderwunsch ist in vielen Gesellschaften durch Normen diktiert, die einer patriarchalen Ordnung der Familie entstammen. Dort gelten verheiratete Frauen, die kinderlos bleiben, als Versagerinnen, Kinderlosigkeit ist ein Scheidungsgrund und eine Frau findet erst als Mutter die Anerkennung als vollwertige Person. Auch in solchen Gesellschaften werden die neuen Reproduktionstechnologien durchaus genutzt, damit verheiratete Frauen ihrer zugewiesenen Rolle entsprechen können.
Demgegenüber beruht hierzulande der Kinderwunsch von allein lebenden Frauen oder von Paaren und nun auch von Männern seit etwa vier Jahrzehnten auf einer scheinbar rein individuellen Option, die der Erfüllung eines jeweils persönlichen Lebensplanes entspricht, und erscheint frei von gesellschaftlichen Zwängen. Kinder gehören für diese Menschen zu einem »erfüllten« Leben, stiften Sinn. Den ersehnten Kindern ist ein glückliches Leben zugedacht. Ihnen soll es an nichts fehlen, sie sollen ihren eigenen Weg gehen, erfolgreich sein und Eltern wie Großeltern – so vorhanden – glücklich machen.
Der gesellschaftliche Zweck, dem sie dienen, erscheint nicht mehr unverhüllt als staatlich dekretierte Norm. Die zur »Familienpolitik« mutierte ehemalige »Bevölkerungspolitik« der führenden industrialisierten Nationalstaaten setzt auf freiwillige persönliche Entscheidungen, die durch finanzielle Anreize stimuliert werden: Elterngeld, steuerliche Entlastung. Honoriert wird dabei der Beitrag, den die künftige Generation durch ihre vorgesehene Teilnahme am Erwerbsleben und an der steuerzahlenden Gemeinschaft leisten soll, besonders zur Rentenkasse, zur Altersversorgung der Generation ihrer Eltern und Großeltern. So zumindest die Logik des sogenannten Sozialstaates.
Doch »die Gesellschaft«, die sich durch ihre selbsternannte Elite zu Wort meldet, äußert noch andere Wünsche in Bezug auf den Nachwuchs. Die »richtigen« Eltern sollen Kinder in die Welt setzen: Der gebildete Mittelstand soll sich vermehren, vor allem auch dessen gehobener Bestandteil ohne »Migrationshintergrund«. Gern gesehen ist auch der Nachwuchs, der die Gesellschaft (verstanden als Kollektiv der Steuerzahler_innen) möglichst wenig kostet, weshalb der Stoßseufzer oder die Beschwörungsformel von Eltern und anderen Anverwandten im Falle einer Schwangerschaft: »Hauptsache es ist gesund!« immer auch eine zweite Bedeutung erhält: ein weites Feld für Pränataldiagnostik zum Ausschluss von körperlichen und geistigen Schäden des werdenden Lebens. Dieser Zweig der Medizin wurde schließlich etabliert, nachdem seine Protagonist_innen den Aufwand für die Einführung humangenetischer Beratungsstellen mit den Kosten, die ein körperlich oder geistig behindertes Kind der Gemeinschaft der Steuerzahler_innen verursacht, verrechnet hatten. Ein oft katastrophales Bild aber zeigt der Blick auf die globalen Verhältnisse. Es lässt sich schwer übersehen, dass die Schar der Kinder, auf die wenig Gutes wartet, so immens viel größer ist als die der Wunschkinder in den OECD-Ländern. Auf Millionen dieser Erdenbürger richten sich keine idyllischen Wünsche, sondern eher verzweifelte Gefühle ihrer Mütter und Väter, Ängste und Kummer angesichts der Tatsache, dass sie als Verfügungsmasse für Warlords und deren Kriege, als vernutzbare Arbeitskräfte, als ausbeutbares Körperpotential verfügbar oder gefügig gemacht werden.
Wir sehen: Wünsche unterschiedlichster Art richten sich auf Kinder, auf den Nachwuchs, der immer auch der Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse dient und dienen soll. Trotz UN-Kinderrechtskonvention, Kinderschutzorganisationen, Weltkinderhilfswerk lässt sich nicht feststellen, dass sich die Lage des Weltnachwuchses in irgendeiner Weise in den vergangenen hundert Jahren grundsätzlich verbessert hätte.
Bleibt der individuelle Glücksanspruch der Glückskinder, jener, die die Sonnenseite erwischen. Ihnen und ihren Eltern sei ihr individuelles Glück gegönnt, solange sie mit dazu beitragen, dass diejenigen, die keinen Kinderwunsch verspüren oder – so sie denn »unfruchtbar« (was für ein Wort!) bleiben – nicht gleich in tiefste Depression verfallen, wenn sie auf die Versprechungen der »assistierten Reproduktion« verzichten wollen oder müssen, dass also diese Menschen, die sich nicht infizieren lassen von den Glücks- und Sinnversprechen mittels »eigener« Kinder, ihren akzeptierten Platz in dieser Welt finden.
Teil 1 der Serie erschien unter dem Titel »Wunschkinder« im Heft 17/2016.