Die Olympischen Sommerspiele in Rio sind beendet. Für die Briten stand bei den Abschlussfeierlichkeiten am 21. August fest, dass ihre Sportler das Königreich zu einer sporting superpower erhoben hatten – im Medaillenspiegel erreichten sie hinter den USA und vor China den beeindruckenden zweiten Rang. Die bereits in den Jahren vor den Olympischen Spielen in London praktizierte Strategie der mit Hunderten von Millionen Pfund Sterling ausgestatteten Agentur UK Sport, in genau die Leistungssportarten zu investieren, die ihr medaillenträchtig erschienen, hat sich in der Tat »ausgezahlt«. Die Agenturvorsitzende Liz Nicholl befand nach den Spielen: »Es war für uns ein herausragendes, Geschichte schreibendes Ereignis.« Und sie fügte hinzu: »Erfolg im Sport kann eine Nation inspirieren, sie zusammenrücken lassen und jeden stolz machen.« (Guardian, 21.8.2016, eig. Ü.)
Inspiration benötigen die Briten zweifellos – schließlich liegt die wahrlich Geschichte schreibende Volksentscheidung für den Brexit bereits über zwei Monate zurück, ohne dass bislang klar wäre, was in nächster Zeit konkret passieren wird. Während jenseits des Ärmelkanals nach einigen anfänglichen Turbulenzen das alltägliche Leben, Lieben und Feiern längst wieder ganz »normal« verläuft, versucht die neu installierte Regierungsmannschaft von Theresa May gegenwärtig mühevoll, all die Herausforderungen in den Griff zu bekommen, die das Himmelfahrtskommando EU-Austritt mit sich bringt. Ein Blick zurück:
Die am 13. Juli 2016 inaugurierte Premierministerin May kam am 1. Oktober 1956 als Theresa Mary Brasier in einem Pfarrhaushalt in Eastbourne zur Welt. Politisch in Erscheinung trat die nach ihrem Geographiestudium am St Hugh’s College in Oxford als Finanzexpertin tätige und mit dem Bankmanager Philip John May verheiratete Konservative ab 1997. Nach dem Einzug als Abgeordnete ins Unterhaus stieg sie in kurzer Zeit zur Generalsekretärin der Conservative Party auf. Seit 2010 diente sie Cameron als Innenministerin und profilierte sich vor allem durch ihr Vorgehen gegen die Einwanderung. Etwa durch ihre 2015 publik gewordene Aussage, »Immigration verhindere, Zusammenhalt in der Gesellschaft aufzubauen«. Sie verhängte auch das Verbot für Migranten, die weniger als 18.600 Pfund pro Jahr verdienen, ihre ausländischen Ehepartner oder Kinder ins Königreich einreisen zu lassen. Die kompromisslose Hardlinerin May gilt bei jüngeren Tories zugleich als »Modernisiererin«, weil sie für die Gleichstellung von Frauen und von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften eintritt.
»Gemeinsam werden wir ein besseres Britannien bauen«, versprach Theresa May bei ihrem Amtsantritt. Denn nicht die Privilegierten, betonte sie, sondern die gesellschaftlich Benachteiligten sollen künftig von ihrer »Regierung für die ganze Nation« profitieren. Im O-Ton (Guardian, 17.7.2016, eig. Ü.) klang das sozialistischer als die Reden führender Vertreter der kriselnden Labour Party: »Wir müssen die schreiende Ungerechtigkeit bekämpfen, dass die in Armut Geborenen unter uns im Durchschnitt neun Jahre früher als andere sterben; dass Schwarze vor Gericht härter als Weiße behandelt werden; dass weiße Söhne der Arbeiterklasse seltener als alle anderen eine Universität besuchen; dass Kinder auf Staatsschulen deutlich seltener in Top-Jobs aufsteigen als Privatschüler; dass Frauen weniger verdienen als Männer; dass für psychisch Kranke nicht genug Kapazitäten bereit stehen; dass es für junge Leute schwerer als je zuvor ist, ein Eigenheim zu besitzen; dass Mitglieder einer normalen Arbeiterfamilie ein viel härteres Leben haben, als vielen Politikern in Westminster bewusst ist.«
Theresa May berief nach ihrem Dienstantritt viele neue Kräfte in ihr 25-köpfiges Kabinett. Sie warf acht Minister raus, darunter auch Schatzkanzler George Osborne und Justizminister und Brexiteer Michael Gove. Zugleich erhöhte sie die Zahl der Frauen auf sieben – einschließlich der Brexiteerin und unterlegenen Mitbewerberin Andrea Leadsom, die als Umweltministerin nun auch für die Landwirtschaft zuständig ist. Die Landwirte werden beim Entfall der EU-Subventionen übrigens die Hälfte ihrer Einkünfte verlieren … Unter dem Strich sorgte May für eine Art Balance zwischen Brexiteers und Remainers. Dazu gehörte auch die im Ausland mit Verwunderung quittierte Ernennung der Galionsfigur der Brexit-Kampagne zum Außenminister: Boris Johnson. Den wichtigen Posten des Schatzkanzlers erhielt Camerons Außenminister, der Remainer Philip Hammond, den May als zuverlässig-bedachtsamen Politiker schätzt. Das nicht minder wichtige Handelsministerium bekam Brexiteer Liam Fox, der vor allem binationale Freihandelsverträge mit den USA, China et cetera abschließen soll. Der ehemalige Europastaatssekretär David Davis wiederum übernahm das neue Ministerium für den Austritt aus der EU, das sogenannte DExEU.
Kein Zweifel, die mit austrittsrelevanten Ressorts versehenen Tory-Brexiteers müssen nun liefern, müssen ihr Versprechen, das Königreich würde außerhalb der EU in jeder Hinsicht prosperieren, einlösen. Das wiederum ist alles andere als ein leichtes »olympisches« Unterfangen und wird die Regierung wahnsinnig viel Steuergeld kosten. Denn bislang sind von den rund 300 für das DExEU-Ministerium vorgesehenen qualifizierten Mitarbeitern erst die Hälfte rekrutiert, fehlt es vor allem an ausgewiesenen Rechts-, Wirtschafts- und anderen Experten mehr, die nun vom privaten Sektor, also von Beratungsgesellschaften wie KPMG, PwC und McKinsey teuer engagiert werden müssen – sie kosten pro Kopf bis zu 5000 Pfund Sterling täglich. Für die geplanten Austrittsverhandlungen und zugleich fälligen Neuverhandlungen von Handelsverträgen mit Einzelstaaten und der Welthandelsorganisation werden Schätzungen zufolge knapp 10.000 Spezialisten in allen relevanten Ministerien benötigt. Allein die administrativen Kosten dürften an die fünf Milliarden Pfund ausmachen.
Und wie weiter? Bislang steht noch kein konkreter Zeitpunkt für das den Brexit besiegelnde Austrittsgesuch fest. Laut May soll es nicht in diesem Jahr erfolgen, weil ihre Minister Zeit für die Entwicklung einer Verhandlungsstrategie gewinnen sollen. Im Übrigen muss das Parlament dem Gesuch vor der Abgabe zustimmen. Ob die überwiegend gegen den EU-Austritt eingestellten Parlamentarier das auch dann noch tun, wenn in nächster Zeit die Nachteile eines Austritts immer deutlicher zutage treten, ist durchaus die Frage. Ob die Union gemäß Artikel 50 des EU-Vertrags mit Großbritannien und Nordirland dereinst tatsächlich »ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts« aushandelt – wer weiß. Übrigens kam Artikel 50 überhaupt erst auf Drängen der Briten in den Lissabonner Unionsvertrag von 2009. Sollten die Verhandlungen aufgenommen und dabei innerhalb der festgesetzten zwei Jahre keine Einigungen erzielt werden, endet die Mitgliedschaft des Königreichs automatisch. Angesichts der historisch neuartigen und komplexen Materie wird die Zweijahresfrist dann von beiden Parteien wohl kaum eingehalten werden können.
Ich könnte auch schreiben: Nix Genaues über den von 52 Prozent der abstimmungsbeteiligten Briten gewünschten Brexit weiß man nicht. Was aber passiert mit Großbritannien, wenn das Austrittsgesuch eines Tages förmlich gestellt wird? Als 1989 der große britische Schriftsteller und Übersetzer Julian Barnes seinen Roman »England, England« veröffentlichte (die deutsche Übersetzung von Gertraude Krueger erschien 1999), war das Wort Brexit noch nicht erfunden. Der Abschied des Königreichs beziehungsweise »Old England« von »Europa« wird in dem grotesken Roman jedoch bereits vollzogen. Stark verkürzt geht es in dem anspielungsreichen Text um Folgendes: Barnes lässt seinen Protagonisten Sir Jack, für den die Heimat nur mehr eine lachhaft »moralische und ökonomische Vogelscheuche« darstellt, einen ausgefeilten Plan verwirklichen. Der schwerreiche Unternehmer kauft trickreich die der Küste vorgelagerte Isle of Wight und verwandelt sie in den Vergnügungspark »England, England«. Er enthält schließlich alles, was den Marktforschern zufolge das touristische Herz an englischen Mythen, Gebäuden, Orten, Dingen und Persönlichkeiten begehrt. Von den in den Zustand »gealterter Authentizität« gebrachten Sehenswürdigkeiten Stonehenge, Westminster Abbey und Buckingham Palace bis hin zu Spitfire-Jägern, Robin Hood, Dr. Johnson und den Windsors, die ihren Sitz bald auch ins neue England, England verlegen, reicht die Spanne. Abgasfreier Ponykutschenverkehr zwischen den Highlights inbegriffen. Der Freizeitpark entwickelt nach der Eröffnung eine derartig magische Anziehungskraft, dass Old England nicht länger mit dem artifiziell-simulierten England, England mithalten kann und in einen »schwindelerregenden Niedergang« gerät:
»Im Mutterland brach die vom Tourismus abhängige Wirtschaft zusammen; Spekulanten richteten die Währung zugrunde; der Fortzug der Königlichen Familie machte beim Adel die Auswanderung modern […]. Nach mehreren Rettungsversuchen lehnte Europa es ab, den Patienten weiter künstlich am Leben zu halten. […] Dann setzte eine massenhafte Entvölkerung ein. […] In einer Klausel des Vertrags von Verona entzog Europa den Altengländern das Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Union. Griechische Zerstörer patrouillierten im Ärmelkanal, um Boat people abzufangen.« (1999, S. 326f.)
Julian Barnes schildert in seinem Roman zugleich das immer schwieriger werdende Regierungshandeln im darbenden Old England, nachdem sich die politischen Versprechungen – neues Wirtschaftswachstum, stabile Währung und so weiter – nicht bewahrheiten. Als gar nichts mehr klappt und die Krise unerträglich wird, kommt eine neue Regierung ans Ruder: »Sie löste«, schreibt Julian Barnes, »das Land aus der Europäischen Union – wobei sie die Verhandlungen mit derart verbohrter Irrationalität führte, dass man ihr für den Auszug am Ende noch Geld zahlte …« (1999, S. 328) Wie wahr?
Von Johann-Günther König erschien soeben bei Rowohlt rororo das Taschenbuch: »Die spinnen, die Briten. Das Buch zum Brexit« (128 Seiten, 10 €).