Von »Zynismus« hatte zu Recht eine hannoversche ver.di-Funktionärin im Mai gesprochen, nachdem Ende März die erste von drei Warnstreik-Wellen der Versicherungsangestellten gelaufen war (s. »Zynismus im System«, Ossietzky 12/2017). Der Grund: Die Unternehmer hatten angeboten, die Gehälter drei Jahre lang unterhalb der Inflationsrate zu erhöhen und begründeten das damit, dass sie so die Gelder für die dringend notwendige Digitalisierung ihrer Prozesse zu erwirtschaften gedächten.
Gegen diese Zumutung waren in den Folgemonaten mehr Beschäftigte auf die Straße gegangen als bei vorherigen Tarifrunden. Besonders an den Streiks am 19. Juni beteiligten sich unter den 10.000 Aktiven viele, die zum ersten Mal in ihrem Leben mit Fahnen vor dem Tor standen und so etwas absolut Ungewohntes wie die Beantragung von Streikgeld bei ihrer Gewerkschaft in Angriff nahmen – oft mit der bangen Frage, ob dieser Mut nicht vielleicht karriereschädlich sein könnte. Die ver.di-Verhandlungskommission selbst hatte, als sich trotz Kampfbereitschaft die Angebote des Unternehmerverbandes nicht substantiell erhöht hatten, die Verhandlungen für gescheitert erklärt – mit den starken Worten des Verhandlungsführers Christoph Meister: »Wir haben … keine Almosen nötig.«
Nach Vieraugengesprächen der Verhandlungsführer, anschließenden Vorgesprächen unter acht Augen hat es dann doch am 30. August um 10 Uhr eine weitere Verhandlungsrunde gegeben. Sie war schon am frühen Nachmittag beendet. Das Ergebnis wertete Meister in einer Presseerklärung »als positiv«. Es sichere den Beschäftigten eine Reallohnsteigerung. Es sei auch ein »qualitativer Einstieg in die tarifvertragliche Gestaltung gelungen, um die Beschäftigten in die digitale Assekuranz mitzunehmen und den beispiellosen Umstrukturierungsprozess sozial zu gestalten.« Das klingt nach Erfolg.
Die Zahlen und Fakten sprechen eine andere Sprache: Erzielt wurde zwar eine Gehaltserhöhung um zwei Prozent vom 1. November 2017 bis 1. Dezember 2018. Aber diese Gehaltserhöhung setzt nach sieben Nullmonaten seit dem letzten Tarifabschluss ein. Gerechnet aufs Jahr ergibt das 1,2 Prozent – bei einer offiziellen Preissteigerungsrate, die für 2017 auf 1,8 Prozent angesetzt wird. Ob die die ebenfalls ausgehandelte 1,7-prozentige Erhöhung vom Dezember 2018 bis zum Ende des Tarifvertrages, der für den 31. August 2019 vereinbart wurde, mit der sich dann entwickelnden Inflation Schritt halten wird, muss sich erst erweisen.
Hinsichtlich der Digitalisierung gibt es kein konkretes Ergebnis – wenn nicht die Vereinbarung, in den nächsten Jahren intensiv über das Thema zu sprechen, als solches verkauft werden soll.
Versicherungsangestellte können rechnen und sich nüchtern an Fakten orientieren. Die Stimmung vor allem unter den meisten der 10.000, die aktiv geworden sind, ist denn auch alles andere »als positiv«. Es herrscht eher ein Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber so viel Kaltschnäuzigkeit. Denn den Kern ihres Anliegens hat die andere Seite durchgebracht: Die Versicherungsangestellten tragen durch ihren Reallohnverzicht dazu bei, ihre Arbeitsplätze beschleunigt auf dem Altar der Digitalisierung zu opfern.
Die darin verborgene Demütigung liegt im Kern in der demütigen und von Widerständigkeit weitgehend unberührten Haltung begründet, die die Mehrheit der deutschen Versicherungsangestellten kennzeichnet. Ob der Förderung der dringend notwendigen Widerständigkeit allerdings dadurch gedient ist, ein schlechtes, eben dem schlechten Kräfteverhältnis geschuldetes, Tarifergebnis schönzureden, bleibt zu bezweifeln.