Der Kopf schwebt – noch bis zum 4. März 2018 – hoch über dem Marktplatz, auf dem Flohmarkt, neben dem Museum der Arbeit in Hamburg. Der Kopf gehört Karl Marx, ist ein Ballon, goldfarben. Er weist in neun Metern Höhe auf die Ausstellung »Das Kapital« hin. Die Luftskulptur von Hannes Langeder, »Karl Marx light«, soll ins Museum locken, doch der Flohmarkt unten (nur einmal im Monat) zeigt hautnah, zum Anfassen, die Absurdität von Wert und Preis einer Ware und von Arbeit. Oben in der Ausstellung wird die bekannte Wertformelanalyse aus dem ersten Kapitel greifbar und begreifbar dargestellt. Nebeneinander liegen »20 Ellen Leinwand = 1 Rock oder = 10 Pfd. Tee oder = 40 Pfd. Kaffee oder = 1 Quarter Weizen oder = 2 Unzen Gold oder = ½ Tonne Eisen oder = etc.«
Die Ausstellung (Kurator Joachim Baur) würdigt das 150-jährige Jubiläum der Erstveröffentlichung des ersten Bandes des »Kapital« in Hamburg. Anlass ist aber auch die immer größer werdende Kluft zwischen arm und reich, heute. »Dieses schwere Buch auf leichte Art für ein breites Publikum aufzublättern«, darin sieht der Kurator das Ziel der Schau im Magazin zur Ausstellung (Katalog-Magazin, 160 Seiten, herausgegeben von Rita Müller und Mario Bäumer, im Museumsshop 19,90 €). Eine Neuerung: der WhatsApp-Guide. Besucher erhalten »prägnante und kurzweilige Informationen« als Text-, Audio- oder Videodatei direkt aufs Smartphone gespielt. Für Schulklassen: »What`s up, Marx«, aber auch beschriftete Bauklötze zum Be-greifen, Videos. Vieles Verspielte dabei. Das, was unten der Flohmarkt zeigt, demonstrieren oben Regale mit weißen Konservendosen, gestapelt wie im Supermarkt. Die Aufschriften signalisieren den Inhalt, auch Begriffe wie Liebe, Gesundheit, Bildung finden sich unter Nudeln, Brot, Wasser – eine »ungeheure Warensammlung«, die erschlägt.
Die Ausstellung, in fünf Kapitel unterteilt – »Schreiben«, »Publizieren«, »Lesen«, »Begreifen« und »Diskutieren« –, will mit der Geschichte vertraut machen, aber vor allem die Frage stellen, wie wir heute leben wollen. Gibt es Alternativen zum kapitalistischen Wirtschaftssystem? »Das Kapital« ist, entdeckt Mario Bäumer im Katalog-Magazin, »so angesagt wie selten zuvor«. Über Karl Marx in der Hansestadt mokiert er sich: »Ohnehin ist es durchaus erstaunlich, dass Marx in Hamburg im angesehenen Zingg`s Hotel untergekommen war, hatte er doch zu Beginn seiner Reise noch das Pfandhaus aufsuchen müssen.« In einem der vielen Briefe aber, die zwischen Marx und Engels hin- und hergingen, schreibt Engels, glücklich über die Nachricht von der Fertigstellung des ersten Bandes, dass er Marx Geld schicken will (am 4. April 1867 – im Kapitel von Bäumer über die Korrespondenz der beiden). Heute, hier im Museum – hinter Glas – ein Exemplar der Erstausgabe mit persönlicher Widmung, eine Leihgabe. Es kann ersteigert oder gekauft werden für 1,5 Millionen Euro. Ja, wenn das Marx gewusst hätte, als er sich zwanzig Jahre mit dem »Kapital« quälte.
Vieles grotesk überzogen bei den Preisen auf dem Kunstmarkt: »Das Kapital in der Bildenden Kunst« zeigt Beispiele. Ein Mann namens Marx (Erich) kauft ein kapitalismuskritisches Werk von Joseph Beuys für einen mittleren zweistelligen Millionenbetrag und schenkt es danach der Nationalgalerie. Skurril, der »Marx-Altar mit heiliger Unterhose« im Mittelteil. Links Lenchen Demuth mit Baby-Höschen in den Händen, rechts Sahra Wagenknecht, kniend als Evangelistin, mit Blick auf »den Sitz der Marx‘schen Produktivkraft«. Über ihr ein Adler mit dem »Kapital« in den Krallen. Und über allem Marx als Gottvater. Unten ein Reliquienkasten mit roter Faust. Ein Werk von Helmut und Gepa Schwickerath von 2012. Hier fehlt der Preiszettel.
Die DDR kommt in der Ausstellung und im Katalog kaum vor. Karl-Marx-Stadt nicht, es hat ja als »Chemnitz« kapituliert. Einmal als 20-Pfennig-Briefmarke mit Marx, in der einen Hand das »Kapital«, die andere mit Verkündigungsgeste. DDR, mal kurz im Kapitel Film, Theater und Musical gestreift. Unter der Rubrik: »Marx und ich« spricht Gudrun Matschenz (59), Berufsschullehrerin aus Leipzig über »Marx in der DDR«. Sie schreibt, nach ihrem Studium habe sie »Das Kapital« in den »Müll« geworfen. Aber doch, sie könne sich vorstellen, »sich jetzt wieder mit ihm zu beschäftigen«.
Das tat längst schon die Telekom, die mit ihrem Aktienschwindel viele Leute in die Armut trieb. Ihre Werbung: Marx am Handy. Dazu fast wie ein Marx-Zitat: »Wer dem Osten in Rekordzeit die modernste Telekommunikation erschließt, hat das beste Kapital für die Zukunft.«
1968, ein Foto von Rudi Dutschke mit dem »Kapital« unter dem Arm, einerseits. Und ganz anders: ein Gruppenbild in Helmut Schmidts Haus von 1978. Da sitzen Willy Brandt, Leonid Breschnew und Loki Schmidt unter den blauen Bänden der Marx-Ausgabe, alle lächelnd. Diese Platzierung soll das Eis kurzzeitig gebrochen haben, das die Nachrüstung darstellte. Dann hinter Glas das persönliche »Kapital«-Exemplar von Olaf Scholz, Hamburger Bürgermeister. Aufgeschlagen, »Der Kreislauf des produktiven Kapitals« mit gelben Anstreichungen. Was, ist nicht genau zu erkennen. Im Krisen-Kapitel Fotos vom Schwarzen Freitag 1928 über die Occupy-Demonstrationen vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt/Main 2011 bis zum G20-Gipfel 2017 in Hamburg. Text dazu: »Die Proteste verdeutlichen, dass die Diskussion über den Kapitalismus aktueller denn je ist.« – Ach.