»Ihr wisst, auf unsern deutschen Bühnen probiert ein jeder, was er mag.« (Goethe, Faust I). Das dachte sich anscheinend auch der künstlerische Leiter der kürzlich zu Ende gegangenen documenta in Kassel, Adam Szymczyk, als er eine Performance mit dem Titel »Auschwitz on the beach« ins Programm nahm. Im Mittelpunkt steht ein Gedicht gleichen Namens. Verfasst hat es der italienische Schriftsteller und Philosoph Franco Berardi. Über den Inhalt heißt es im offiziellen Begleittext: »Auf ihrem eigenen Territorium errichten die Europäer Konzentrationslager und bezahlen ihre Gauleiter in der Türkei, Libyen und Ägypten dafür, die Drecksarbeit entlang der Küsten des Mittelmeeres zu erledigen, wo Salzwasser mittlerweile das Zyklon B ersetzt hat.«
»Geschmacklos« nannte der hessische Minister für Wissenschaft und Kunst, Boris Rhein (CDU), die Performance. Der Oberbürgermeister von Kassel, Christian Geselle (SPD) sprach von einer »ungeheuerlichen Provokation«. Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde in München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, sagte, es zeuge von unsäglichem Unwissen und entbehre jeglichen Schamgefühls, die Flüchtlingsthematik mit Termini aus dem Kontext der systematischen nationalsozialistischen Judenvernichtung zu beschreiben.
Das vernichtende Echo zwang die Verantwortlichen zum Handeln. Die Performance wurde abgesagt. Kleinlaut bemerkte der zuständige Kurator Paul B. Preciado, der Verfasser des Gedichts nutze »das unberührbare Wort Auschwitz, um unser Gewissen zu wecken«. Zeit online erwiderte: »Genau das ist Medienaktivismus: Für öffentliche Aufmerksamkeit alles zu riskieren, alles zu missbrauchen.« Der künstlerische Leiter der documenta, Szymczyk, rechtfertigte gleichwohl den unsäglichen Vergleich. Berardis Gedicht sei eine »Warnung vor historischer Amnesie, ein Weckruf des Gewissens, ein Aufruf zu kollektivem Handeln – und nicht etwa ein Versuch, den Holocaust zu relativieren«. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung ließ das nicht gelten. Trocken konstatierte sie: »Der Vergleich ist in der Welt.« Da nutzte es wenig, dass Franco Berardi auf einer Ersatzveranstaltung meinte: »Wir müssen einen Weg aus dem Abgrund finden, in den uns der Finanzkapitalismus und der Nationalismus gebracht haben.«
Berardi versuchte damit zu retten, was nicht zu retten war. Damit hätte es sein Bewenden haben können, wäre das Geschehen nicht nachträglich umgemünzt worden in einen »Angriff auf die Freiheit der Kunst«, wie eine fünfspaltige Überschrift in der Süddeutschen Zeitung vom 28. August unterstellte. In dem dazu gehörenden Artikel schrieb Philipp Ruch von der Gruppe »Zentrum für politische Schönheit«: »Der Künstler hat die Freiheit, einen drastischen Vergleich zu wählen. Wenn eine Gesellschaft ihn nicht erträgt, kann das der Kunst egal sein.« Dem liegt ein Irrtum zu Grunde. Auschwitz eignet sich nicht für Vergleiche. Wer jemanden mit den Organisatoren des industriell betriebenen Massenmordes an den Juden vergleicht, setzt sich a priori ins Unrecht.
Das verloren die Beteiligten anscheinend ebenso aus den Augen wie einst der deutsche Außenminister Joschka Fischer, der sich auf Auschwitz berief, um die deutsche Beteiligung am völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien zu rechtfertigen. Auschwitz in einem Atemzug zu nennen mit dem Atombombenabwurf auf Hiroshima oder dem Stalin‘schen Gulag, wie das der spätere Bundespräsident Joachim Gauck am 28. März 2006 als Gastredner bei der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart getan hat, richtet sich selbst. Kein Wort der Erläuterung kann daran etwas ändern. Aber auf unsren Bühnen probiert eben ein jeder, was er mag. Auschwitz darf nicht benutzt werden, um jemanden zu diskreditieren oder politischen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Es gibt genügend Fakten und künstlerische Mittel, den Verantwortlichen für das Leiden und Sterben von Flüchtlingen den Spiegel vorzuhalten. Einer Performance mit dem Titel »Auschwitz on the beach« hätte es dazu nicht bedurft.