»Sie schufen eine Wüste und nannten es Frieden« – an das berühmte Zitat eines Gegners des römischen Imperiums erinnert die Washington Post in ihrer Bilanz des Sturms auf Mossul. US-Kommandeure bezeichnen die neun Monate lange Schlacht, in der die Millionen-Stadt der Kontrolle des »Islamischen Staats« (IS oder arab. Daesch) entrissen wurde, als eine der tödlichsten seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Tage des großspurig ausgerufenen Kalifats sind damit gezählt. Der Krieg im Irak ist damit jedoch noch lange nicht zu Ende. Die Konflikte im Land haben sich während des brutalen Feldzuges gegen den IS weiter verschärft.
Das Ausmaß der Verwüstung in der einstigen Metropole, die auf eine jahrtausendelange Geschichte zurückblickt, ist erschütternd. Video-Aufnahmen und Fotos des Fotografen Felipe Dana, die das Magazin National Geographic online unter der Überschrift »Among the Ruins of Mosul« veröffentlichte, zeigen westlich des Tigris eine einzige Trümmerlandschaft. Aus den Trümmern kletterten, wie auf Fotos anderer Fotografen zu sehen ist, halbbekleidete, ausgemergelte und verängstigte Menschen. Tausende liegen nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) unter den Schuttbergen begraben.
Auch nach Einschätzung der UNO stellt das Ausmaß der Zerstörungen alles Bisherige im Land in den Schatten. Mossul sei »die größte Stabilisierungs-Herausforderung, der sich die UNO je gegenübersah – sowohl bezüglich seiner Größenordnung als auch seiner Komplexität und Bandbreite«, so die Humanitäre Koordinatorin der UNO im Irak, Lise Grande.
Der Sieg in Mossul markiere das Ende einer Schlacht, aber nicht des Krieges, ist auch Felipe Dana, nach dem, was er sah, überzeugt: »Auch wenn es für heute beendet ist, glaube ich nicht, dass die Leute einfach zurückgehen und ihr Leben wieder aufnehmen werden.«
Ein Teil der Zerstörungen geht auf das Konto der Dschihadisten. Hauptverantwortlich sind jedoch die Luft- und Artillerieangriffe der US-geführten Allianz, mit denen diese den Bodentruppen den Weg Meter für Meter regelrecht freigebombt haben. Zehntausende Bewohner wurden dabei getötet, über eine Million Menschen aus der Stadt getrieben. (s. Ossietzky 15/2017)
Während rund 200.000 Flüchtlinge aus dem bereits im Januar zurückeroberten und nicht so stark zerstörten Ostteil der Stadt mittlerweile zurückkehren konnten, sitzen über 830.000 Mossulaner nur notdürftig versorgt in irakischen Zeltlagern fest ‒ und das auf unbestimmte Zeit. Die flächendeckende Zerstörung von Wohnungen, Geschäften, Krankenhäusern, Schulen et cetera mache eine baldige Rückkehr unmöglich, so IOM. Allein die Wiederherstellung der lebensnotwendigen Infrastruktur Mossuls wird über eine Milliarde US-Dollar kosten und Monate dauern. Die Kosten des gesamten Wiederaufbaus der Stadt werden auf zig Milliarden Dollar geschätzt. Dafür fehlen im Irak jedoch nicht nur die finanziellen Mittel, sondern auch die politischen Voraussetzungen ‒ angesichts einer völlig unfähigen und korrupten Regierung und Verwaltung. Die Staaten der Anti-IS-Allianz wiederum zeigen keine Neigung, sich an der Beseitigung der von ihnen mitverursachten Schäden zu beteiligen. In den bereits im Februar und Juni 2016 zurückeroberten und ebenfalls stark zerstörten Großstädten Ramadi und Falludscha ist jedenfalls bisher kaum etwas geschehen. Die Wasser- und Elektrizitätsversorgung wurde zwar notdürftig mit Hilfe von UN-Mitteln geflickt, 80 Prozent der Häuser sind aber immer noch unbewohnbar.
Die Familien aus Mossul flohen aber nicht nur vor den Kämpfen, sondern auch vor den Racheaktionen der siegreichen Truppen. Bei deren Vorrücken mehrten sich Berichte über willkürliche Verhaftungen, Folterungen und Exekutionen. Ein steter Strom von Leichen treibe den Tigris hinunter, meldete der Guardian, die meisten noch in Fesseln und mit verbundenen Augen. Videos im Internet zeigen die Misshandlung und Ermordung gefangener, der Kollaboration mit dem Daesch beschuldigter Männer. Dutzende Frauen und Kinder von verdächtigen Männern wurden bereits in Gefangenenlager verschleppt, Hunderte Familien unter Todesdrohungen zum Verlassen der Stadt gezwungen. Für die Gräueltaten werden vor allem die mächtigen, vom Iran ausgerüsteten schiitischen Milizen verantwortlich gemacht, die im Rahmen ihres Kampfes zur Ausweitung der schiitischen Vorherrschaft alle Sunniten als Daesch-Unterstützer behandeln. Doch auch die von den USA ausgebildeten und angeleiteten irakischen Elite-Einheiten begehen, wie unter anderem Human Rights Watch berichtet, systematisch Kriegsverbrechen.
Diese fürchterlichen Verbrechen werden das Land teuer zu stehen kommen, warnt der britische Guardian. Sie bereiten den Boden für die nächste Generation extremistischer Kämpfer. Das Staatsbildungsprojekt des Daesch ist mit dem Verlust von Mossul zwar faktisch am Ende, besiegt ist er jedoch noch lange nicht. Er kontrolliert immer noch weite Gebiete Syriens und des Iraks und weitet in den Gegenden, aus denen er vertrieben wurde, seine Anschläge auf Infrastruktur, Sicherheitskräfte, politische Führer und so weiter aus. Da keine der Ursachen, die die Ausbreitung des Daesch ermöglicht hatten, beseitigt wurde, sind die Bedingungen für seine Untergrundaktivitäten weiterhin günstig.
Mossul war seit langem ein gefährlicher Ort, schreibt, der renommierte britische Nahostkorrespondent Patrick Cockburn in seinem ausführlichen Artikel »Endzeit in Mossul« in der Zeitschrift London Review of Books. Schon Wochen nach der Eroberung durch kurdische Peschmerga im Rahmen der US-geführten Invasion im Frühjahr 2003 entwickelte sich die Stadt zu einer Hochburg des Widerstands. In den folgenden elf Jahren gelang es weder der US-amerikanischen Besatzungsmacht noch dem von ihr etablierten, schiitisch dominierten Regime, die volle Kontrolle über sie zu erringen. Die Metropole war der Willkür korrupter schiitischer Armee- und Polizeieinheiten ausgesetzt und von einem dichten Netz von Checkpoints durchzogen. Eine Fahrt von einem Stadtteil zum anderen konnte Stunden dauern und mehrfach Wegegeld kosten. Die meisten Sunniten der Stadt hatten daher die Vertreibung der als Besatzungstruppen empfundenen Regierungskräfte im Sommer 2014 durch den Daesch und lokale Aufständische durchaus begrüßt und betrachten nun den Sieg der überwiegend schiitischen und kurdischen Truppen und Milizen ‒ ungeachtet ihrer üblen Erfahrung mit der Herrschaft der Dschihadisten ‒ keineswegs als Befreiung.
Keine der Forderungen der Sunniten zur Überwindung ihrer systematischen Benachteiligung, nach mehr politischer Mitsprache und mehr Autonomie, für die viele 2013/14 auf die Barrikaden gegangen waren, ist bislang erfüllt worden. Die rücksichtlose Rückeroberung der vom Daesch okkupierten Gebiete, in denen neben Mossul zahlreiche weitere Städte und Dörfer zerstört wurden, hat sie nun noch weiter verbittert. »Die zerbombten Städte, die Folter- und Vernichtungslager des Regimes, das Flüchtlingselend und die Hoffnungslosigkeit tragen dazu bei, dass extremen Islamistengruppen nicht so schnell die Rekruten ausgehen werden«, warnt zu Recht Kurt Pelda im Deutschlandfunk. Die systematische Vertreibung sunnitischer Familien aus zurückeroberten Gebieten durch schiitische Milizen, die in konfessionell gemischten Gegenden das Ausmaß ethnischer Säuberungen annehmen, verschärft den konfessionellen Hass weiter.
Auch zwischen Kurden und anderen Bevölkerungsgruppen können die Auseinandersetzungen jederzeit eskalieren. Die im Nordirak dominierenden Kurdenparteien, KDP und PUK, haben im Zuge der Kämpfe gegen den Daesch das Territorium ausgeweitet, das sie jenseits der drei Provinzen kontrollieren, die die »Kurdische autonome Region« (KAR) bilden. Es umfasst nun über 40 Prozent der Fläche der KAR. Vor allem brachten sie Kirkuk und Umgebung unter ihre Herrschaft und damit auch die größten Ölfelder im Norden Iraks. Obwohl es sich keineswegs um mehrheitlich kurdische Gebiete handelt und sich die dort lebenden Araber, Turkmenen und Jesiden massiv dagegen wehren, sind die Kurden fest entschlossen, diese Gebiete dauerhaft der KAR anzuschließen. Die Zentralregierung und die schiitischen Milizen, die selbst zahlreiche Ortschaften in den umstrittenen Distrikten besetzt halten, sind nicht bereit, eine Annexion zu akzeptieren. Solange der Daesch große Teil des Landes beherrschte, zwang der gemeinsame Gegner die rivalisierenden Kräfte zur Zusammenarbeit. Dieser Zwang schwindet, und mit dem am 25. September vorgesehen Referendum über die formelle Unabhängigkeit der bereits weitgehend selbständigen KAR inklusive der umstrittenen Gebiete ist eine Eskalation geradezu vorprogrammiert.
Die verheerenden Folgen eines derart rücksichtslosen und brutalen Krieges gegen den »Islamischen Staat« waren abzusehen. Experten hatten von Beginn an gewarnt, dass die Terrortruppe durch ein rein militärisches Vorgehen nicht besiegt werden könne, sondern das Land weiter spalten und destabilisieren werde. Dennoch wurden zu keinem Zeitpunkt Alternativen zu einem Vernichtungsfeldzug erörtert, der von der Regierung und den schiitischen Milizen zum guten Teil als Krieg gegen ihre sunnitischen Gegner generell geführt wurde. Vorschläge gab es genug. Sie basierten vor allem auf zwei Elementen: einem rigorosen Abschneiden des Nachschubs an Kämpfern, Geld und Waffen durch effektive Schließung der Grenzen zur Türkei und einer lokalen Isolation der Dschihadisten, indem Bagdad zur Verständigung mit den Sunniten und zum Eingehen auf ihre berechtigten Forderungen gedrängt worden wäre. Politische Unterstützung hätte man dafür in der mehrheitlich schiitischen Protestbewegung gegen das sektiererische und korrupte Regime gefunden, die immer wieder zu Hunderttausenden auf die Straßen strömt und letztes Jahr durch die gewaltfreie Besetzung des Parlaments inmitten der streng bewachten »Grüne Zone« auf sich aufmerksam machte.
Wenn die USA, Deutschland und die übrigen EU-Staaten ungeachtet dessen an einem Feldzug festhalten, der alle Städte im Zuge ihrer »Befreiung« zerstört, so kann es dabei nicht allein um die Zerschlagung des Daesch gehen. Ein weiteres von US-Präsident Trump auch offen propagiertes Ziel ist es, die Rückkehr ausländischer Dschihadisten zu verhindern, indem man so viele wie möglich noch vor Ort tötet. Indem die westlichen Staaten sich weiterhin einseitig um die Stabilisierung des schiitischen Regimes bemühen und parallel die kurdischen Parteien stärken, setzen sie aber auch Washingtons Politik des »Teile und herrsche« der Besatzungszeit fort. Offensichtlich möchten sie primär und dauerhaft das Wiedererstehen eines starken, souveränen Iraks verhindern. Daher hat das Niederhalten arabisch-nationalistischer Kräfte, die seit 2003 besonders stark unter Sunniten vertreten sind, und die Verhinderung einer Vereinigung der oppositionellen sunnitischen und schiitischen Kräfte Vorrang vor der Stabilisierung des Landes. Hierin besteht die sillschweigende Übereinkunft zwischen Washington und Teheran.
Dass das Land auf diese Weise zerrissen bleibt und ohne funktionierenden Staat, kommt den Interessen der westlichen Mächte keineswegs ungelegen. Garantiert doch ein unfähiger und korrupter Staat den im Irak operierenden Konzernen große Freiheiten, nicht zuletzt in der Ölindustrie. Auch wenn deren Privatisierung durch einen breiten Widerstand der Iraker blockiert wurde, haben die Öl-Multis mittlerweile weitgehend freie Hand und erheblichen Einfluss auf die irakische Politik. Und die kurdische Regionalregierung, die mit westlicher Unterstützung nahezu souverän agieren kann, bietet exakt die Geschäftsbedingungen, die sich westliche Konzerne wünschen. Auch die deutsche Regierung sieht in ihr den idealen Partner. Indem deren Kämpfer an Bagdad vorbei mit deutschen Waffen ausgerüstet und von der Bundeswehr trainiert werden, fördert sie separatistische Bestrebungen und unterstützt einseitig eine Konfliktpartei im Land direkt militärisch ‒ in einer Situation, die jederzeit zu einem neuen Bürgerkrieg eskalieren kann.
Literaturhinweis: »Die Schlacht um Mossul« – Studie von Joachim Guilliard, erschienen in der Informationsstelle Militarisierung (IMI).