Als am 3. Oktober 1990 die DDR ihre Existenz beendete, wurde schnell klar, dass im Hintergrund des nationalen Taumels eine gigantische Welle krimineller Enteignung und Arbeitsplatzvernichtung lief. Wie der Philosoph Robert Kurz damals schrieb, organisierte »eine Zunft von Aasgeiern das Sterben einer ganzen Volkswirtschaft«. Dies nannte sich Privatisierung. »Privatio« kommt aus dem Lateinischen und kann als »Beraubung« übersetzt werden.
Die ostdeutsche Wirtschaft hatte spätestens ab Mitte der 1980er Jahre ohne Zweifel in einer schweren Krise gesteckt. Dass die DDR unmittelbar vor einem Zusammenbruch stand, ist jedoch eine vielkolportierte Zwecklüge. Aus heutiger Sicht nehmen sich die Auslandsschulden des Landes sogar lächerlich niedrig aus. Der Wirtschaftscrash von 1990 war gewollt und wurde ganz bewusst erzeugt. Es handelte sich um eine klassische neoliberale Schocktherapie.
Der plötzliche Zusammenbruch ganzer Wirtschaftszweige – die traditionsreiche sächsische Textilindustrie krachte beispielsweise vollständig zusammen –, resultierte nicht aus einer angeblichen sozialistischen Misswirtschaft. Sicherlich waren viele der in der DDR sozialisierten Betriebsdirektoren und ökonomischen Leiter mit der veränderten Situation überfordert, fielen häufig auf ganz simple Tricks von Konkurrenten herein. Andere gingen Glücksrittern und Hochstaplern auf den Leim, die im »wilden Osten« ihr Schnäppchen machten; Ostdeutschland war ja mehrere Jahre lang ein Eldorado für Wirtschaftskriminelle aller Schattierungen, die sich in einem faktisch rechtsfreien Raum die Taschen füllten. Im Wesentlichen war der Industriekahlschlag jedoch strukturell angelegt. Er resultierte aus Entscheidungen der bundesdeutschen Regierung und ihrer Handlanger in der letzten DDR-Regierung.
Die Treuhandanstalt zur Verwaltung des Volkseigentums (THA), kurz auch »Treuhand« genannt, war viele Jahre lang das bevorzugte Hassobjekt der Ostdeutschen, galt als Inkarnation eines Raubtierkapitalismus oder auch als Handlanger westdeutscher Kolonialherren. Tatsächlich datiert ihre Gründung auf den 1. März 1990; sie war also ein Produkt der Übergangszeit unter Ministerpräsident Modrow (PDS). Hinter der Gründung dieser Institution steckte ursprünglich die Absicht, jedem DDR-Bürger nach Verkauf der staatseigenen Wirtschaftsunternehmen einen Anteil vom Erlös auszuzahlen. In dem im Juni 1990 von der Volkskammer verabschiedeten Treuhandgesetz war von Anteilsrechten der Bürger allerdings nicht mehr die Rede – das Primat hatte die schnellstmögliche Privatisierung. Und es war – in Sachwerten gesehen – ein ungeheures Vermögen, das hier des Verkaufs harrte: 8.500 große und kleine Industriebetriebe, 20.000 Einzelhandelsgeschäfte, mehrere Millionen Hektar land- und forstwirtschaftlich genutzte Flächen … Die nun forcierte Privatisierung betraf die Arbeitsplätze von etwa vier Millionen Beschäftigten.
Die Treuhandanstalt wurde nach dem 3. Oktober 1990 umstrukturiert und personell wesentlich erweitert. Ausnahmslos all ihre leitenden Mitarbeiter stammten nun aus den Reihen der bundesdeutschen Wirtschaftselite. Entsprechend gestaltete sich dann auch das Ergebnis ihrer Arbeit. Da alle staatseigenen Unternehmen der DDR von der Treuhand zum gleichen Zeitpunkt auf den Markt geworfen wurden, herrschte ein Überangebot, und die Preise für Industrieobjekte purzelten in rasantem Tempo in den Keller. Der Preisverfall verschärfte sich noch, weil die Mitarbeiter der Treuhandanstalt angehalten waren, das DDR-Erbe in möglichst kurzer Zeit zu veräußern. Schnelle Privatisierung sei die beste Methode zur Sanierung – hieß es damals. Wenn also ein Bieter mit einem niedrigen Angebot herüberkam, feilschte man nicht lange, sondern schlug zu. Viele durchaus noch liquide Betriebe gingen schließlich für eine Deutsche Mark (heute: etwa 50 Cent) über den Tisch. Die damalige Bundesregierung hatte durch politische Vorgaben, unter denen die Privatisierung stattfand, ihren Wirtschaftskapitänen ein Geschenk von wahrhaft astronomischem Umfang zukommen lassen. Dumm war, wer sich damals nicht bediente.
Den von der Treuhand schließlich »erwirtschafteten« Schuldenberg musste übrigens der Steuerzahler tragen. Wer auch sonst?
Nicht selten stürzten sich westdeutsche Konkurrenzunternehmen auf die angebotenen Ostfirmen. Gefragt waren Lieferverträge, Kundenverzeichnisse und Patente; die gingen sofort ins Mutterunternehmen. Von den Beschäftigten pickte man sich die besten Leute heraus und bot ihnen eine Weiterbeschäftigung im Westen an, was fast alle dankend annahmen. Das Unternehmen wurde manchmal noch eine Schamfrist lang weiterbetrieben und dann dichtgemacht, die verbliebenen Beschäftigten entlassen, schließlich die noch verwendungsfähige Technik sowie Bausubstanz samt Grund und Boden möglichst teuer verkauft.
Es gab damals auch eindeutig gesetzwidrige Transaktionen, die öffentlich diskutiert wurden. Ein beliebtes Spiel von Glücksrittern und notorischen Berufskriminellen war, irgendein intaktes Unternehmen zu erwerben, aber die Kaufsumme nicht zu bezahlen. Bis der bürokratisch träge Apparat der Treuhand sich schließlich zu einer Rückabwicklung des Vertrages durchrang, hatte der neue Besitzer schon die Firmenkonten leergeräumt, möglichst viele Sachwerte veräußert und war mit den eingesackten Geldern auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Selbst wenn es Jahre später gelang, ihn per Auslieferungsantrag vor ein Gericht zu zitieren, waren die Straftaten zumeist verjährt und das Geld verschwunden.
Die Bundesregierung hatte das höhere Management der Treuhandanstalt in weiser Voraussicht von jeder Haftung für fahrlässiges Fehlverhalten freigestellt -– ein wirklich treffendes Beispiel dafür, wie man Beihilfe zu Raub problemlos entkriminalisieren kann. Dass leitende Treuhandmanager mit den Inhabern von erwerbenden Firmen nicht selten persönlich oder geschäftlich verbandelt waren, pfiffen damals die Spatzen von sämtlichen Dächern – nur selten hatte dies Konsequenzen. Eine Aufarbeitung und Ahndung von Fällen sogenannter Vereinigungskriminalität war nicht gewollt und ist bis heute fast nicht geschehen.
Der wirtschaftliche Aderlass war empfindlich, vor allem der Umfang der Industrieproduktion nahm rapide ab. Die Bevölkerung im Osten Deutschlands konnte sich bis heute nicht von dem Sozialschock erholen. Die Geburtenrate brach 1990 drastisch ein, gleichzeitig sank die durchschnittliche Lebenserwartung. Die schon 1989 begonnene Abwanderung vor allem junger Leute in Richtung der alten Bundesländer hält bis in unsere Gegenwart an – die Menschen gehen dorthin, wo es Arbeitsplätze gibt. Es bleiben diejenigen, die für sich auf dem enger gewordenen Arbeitsmarkt auch im Westen keine Chancen sehen. Mangels geeigneter Arbeitskräfte siedeln sich demzufolge in der jeweiligen Region kaum neue Unternehmen an – eine Abwärtsspirale ohne Ende.
Verschiedene Gegenden veröden in rasantem Tempo; im Osten Mecklenburg-Vorpommerns und im Nordosten Brandenburgs sind zahlreiche Dörfer mangels Einwohnerschaft auf dem besten Wege, von der Landkarte zu verschwinden. Eine Großstadt wie Chemnitz (vormals: Karl-Marx-Stadt) im Süden Sachsens verlor etwa ein Drittel der Einwohner; Teile der Stadt, besonders die alten Arbeiterquartiere, gleichen mittlerweile einer Ruinenlandschaft.
Volkswirtschaftlich gesehen war der Vereinigungsprozess ein Debakel. Die fünf neuen Bundesländer können mangels Steuereinnahmen ihre Infrastruktur nicht selbst unterhalten, leben bis heute zu nicht unbeträchtlichen Teilen von Ausgleichszahlungen der reicheren westdeutschen Bundesländer.
Hätte man 1990 und in den Folgejahren gegen die damalige kriminelle oder fast-kriminelle Privatisierung und Arbeitsplatzvernichtung Widerstand organisieren können? Der in Auflösung befindliche Politapparat der DDR konnte es gewiss nicht; dessen Angehörige waren mehrheitlich damit beschäftigt, mittels eines bezahlten Jobs irgendwie im Kapitalismus »anzukommen«. Neu gegründete Betriebsräte sowie örtliche Gewerkschaftsfunktionäre waren mit der neuen Situation jedenfalls überfordert und ließen sich leicht einschüchtern. Ein Beispiel aus dem persönlichen Erfahrungsfundus des Autors dieser Zeilen: Mitte der 1990er Jahre verfügte die Geschäftsführung eines (noch staatseigenen) sächsischen Bauunternehmens per Federstrich die Entlassung aller Mitarbeiter, die das 52. Lebensjahr überschritten hatten. Als der Betriebsrat dagegen zaghaft Widerspruch einlegte, erklärte der Geschäftsführer öffentlich vor Zeugen, »dieser Haufen von Arschlöchern« hätte bei ihm »überhaupt nichts zu melden«. Nein, es handelte sich bei diesem Mann nicht um ein neostalinistisches Fossil, sondern um einen Import aus den alten Bundesländern.
Gegen einige besonders irrwitzige Fälle der im Eiltempo durchgezogenen Privatisierungsorgie gab es Auflehnung – diese Aktionen waren jedoch isoliert und unorganisiert, demzufolge meist erfolglos. Legendär ist der Protest der Kalikumpel von Bischofferode im Norden Thüringens, die sich 1993 mittels Betriebsbesetzung und organisiertem Hungerstreik gegen die Schließung ihrer Grube wandten – der Dichter Volker Braun hat den widerständigen Bergleuten in seinem Werk »Die hellen Haufen« ein literarisches Denkmal gesetzt.
Vom Autor erschien soeben im Nomen Verlag das Buch »Wirtschaftsverbrechen und andere Kleinigkeiten«. Beim obenstehenden Beitrag handelt es sich um eine stark gekürzte Fassung des Kapitels »Zur Treuen Hand«. Gerd Bedszent stellt sein Buch am 11. Oktober ab 20 Uhr im Rahmen der Veranstaltungsreihe GegenBuchMasse in Frankfurt am Main vor. Ort: Club Voltaire, Kleine Hochstraße 5, 60313 Frankfurt am Main.