Der Sprengstoff – etwa 15 Stangen Dynamit – war gut getarnt an den Kirchenfenstern und unter der Treppe befestigt. Die Terroristen hatten die Zünder so eingestellt, dass die Explosion während der sonntäglichen Bibelstunde dutzender junger Mädchen erfolgen sollte. Der Ergebnis war so fürchterlich, wie vom Ku-Klux-Klan (KKK) geplant: Vier Mädchen im Alter von elf bis 14 Jahren wurden getötet, eines davon sogar durch die Wucht der Explosion enthauptet, 22 zum Teil schwer verletzt. Zu den schrecklichen Berichten von Hinterbliebenen gehört auch die Schadenfreude einiger weißer Rassisten und ihr Jubel: »Vier Nigger weniger.« (Übersetzung hier und im Folgenden: H. Sch.)
Die Baptistenkirche in der 16. Straße sah nach dem Terroranschlag aus wie nach einem Bombenangriff. Das war vor genau 55 Jahren, am 15. September 1963, in Birmingham (US-Bundesstaat Alabama), das man wegen der zahllosen Sprengstoffanschläge des KKK auf afroamerikanische Bürger und Einrichtungen Bombingham nannte. Angela Davis und ihre Familie, die nahe der Kirche wohnten, waren mit einigen der Opfer bekannt. Das Viertel hieß wegen der vielen Anschläge »Dynamite Hill«.
Obwohl jeder wusste und auch wissen konnte, wer die Bombenleger waren, tappten Polizei und FBI angeblich »im Dunkeln«. Dabei handelte es sich um das dritte Attentat des KKK in nur elf Tagen. In den Monaten zuvor waren es mehr als ein Dutzend Anschläge gewesen. Im August wurde die Wohnung eines afroamerikanischen Anwalts durch eine Bombe zerstört. Im Mai hatte es einen Anschlag auf ein Motel gegeben, in dem Martin Luther King auftreten sollte, sowie auf das Haus seines jüngeren Bruders, des Bürgerrechtlers Pastor A. D. King. Offiziell wurde nicht ein einziger Terrorakt aufgeklärt.
Der Klan-Anführer der Stadt, Robert Chambliss, war ziemlich schnell von Passanten als einer der möglichen Kirchenbomber identifiziert worden. Wie Jahre später aus den FBI-Akten hervorging, kannte der Inlandsgeheimdienst bald auch die Namen seiner drei Komplizen. Doch ehe es zu einem Prozess kommen konnte, ordnete FBI-Chef J. Edgar Hoover an, alle Akten unter Verschluss zu nehmen. Chambliss wurde erst 14 Jahre später verurteilt. Er erhielt lebenslänglich. Von seinen drei Mit-Terroristen wurden zwei fast 40 Jahre nach der Bluttat 2001 und 2002 abgeurteilt. Einer war verstorben. Das Justizministerium erklärte 1980, Hoover habe die Verurteilung der Terroristen 1965 blockiert.
Klanführer Chambliss hatte sich, so geht aus den auch nach 55 Jahren immer noch zu großen Teilen geschwärzten FBI-Akten hervor, damit herauszureden versucht, dass er das Dynamit an KKK-Mitglied Gary Thomas Rowe übergeben habe. Doch aus Sicht des FBI musste ein Prozess gegen Rowe unbedingt verhindert werden, denn er war »bezahlter Informant und Agent Provocateur für das FBI«, schreibt das englische Wikipedia. Er habe den Klan infiltriert »und Gewalt inszeniert als Teil des FBI-COINTELPRO-Projekts«.
Wenn das bekannt würde, so befürchtete offenbar das FBI, dann wäre die Frage unvermeidbar: Wusste der Geheimdienst vom Anschlag, und warum hat er ihn dann nicht verhindert? Das FBI zog Rowe aus dem Verkehr und verschaffte ihm eine neue Identität.
Diese bis heute nachwirkende und auch praktizierte staatlich initiierte Gewalt des FBI-Programms COINTELPRO war darauf gerichtet, so hatte auch der Church-Ausschuss des US-Senats Mitte der siebziger Jahre enthüllt, linke und andere progressive Organisationen – von der KP der USA, der Bewegung gegen den Vietnam-Krieg bis zu den Bürgerrechtsorganisationen – zu unterwandern, zu diskreditieren, zu schwächen und zu zerstören.
Dazu gehörte auch, dass Polizei und FBI die Angehörigen von Mordopfern damit quälten, dass sie das Motiv der Bluttat, Rassismus oder Hass gegen Linke, leugneten und, wie Bürgerrechtsorganisationen damals in Birmingham berichteten, kriminelle Motive wie Drogenhandel oder Familienfehden unterstellten. Aber wir kennen das ja auch, zum Beispiel von der NSU-Affäre.
Inzwischen hat das FBI – vor allem nach 9/11 – noch ein weiteres Betätigungsfeld entdeckt: Das Organisieren von »islamistischen Terroranschlägen«. Darauf verwies die New York Times schon am 28. April 2012 unter der Schlagzeile: »Terroristische Komplotte, ausgeheckt vom FBI«. Das Blatt brachte zahlreiche Beispiele, wie FBI-Agenten oder FBI-Informanten naive Muslime zu überzeugen versucht hatten, Anschläge zum Beispiel auf das Capitol in Washington oder das Pentagon zu begehen. Das FBI habe versprochen, ihnen dafür unter anderem »sprengstoffbeladene Modellflugzeuge«, »Raketen« und sogar »Selbstmordwesten« zu geben. Sie seien dann kurz vor der Tat »erfolgreich« enttarnt und verhaftet worden.
Die englischsprachige Huffington Post stellte am 27. Oktober 2012 fest, das FBI sei sehr damit beschäftigt, »zu Handlungen des ›islamischen‹ Terrorismus zu ermuntern«. Die Zeitung fühlte sich an das COINTELPRO-Programm des Inlands-Geheimdienstes erinnert.
Als Bundesbürger komme ich angesichts solcher Fakten ins Grübeln. Was unterscheidet den Verfassungsschutz eigentlich vom FBI? Auch der deutsche Inlandsgeheimdienst versucht, wie mehrfach entlarvt, linke Organisationen mit Einflussagenten zu unterwandern und zu schädigen, er organisiert vorgetäuschte Anschläge (wie das Celler Loch), um schärfere Sicherheitsgesetze durchzusetzen, benutzt mit etwa 40 V-Männern offenbar faschistische Organisationen wie den NSU, um Unruhe im Land zu erzeugen, schreddert belastende Dokumente, die das beweisen könnten, oder sperrt sie für 120 Jahre weg – schlimmer noch als das FBI.
Und was ist mit dem Weihnachtsmarkt-Attentäter Amri? Auch er war von V-Leuten des Verfassungsschutzes umringt, einer hatte ihn sogar aus Düsseldorf nach Berlin gefahren. Man wagt es kaum zu denken, aber: Könnte der Verfassungsschutz hier vielleicht FBI gespielt und dann den Zeitpunkt verpasst haben, den Terroristen zu stoppen? Was hat der Geheimdienst zu verbergen, dass er, so die ARD-Sendung Report, in Bezug auf den Terroranschlag mit zwölf Toten beschlossen hatte: »Ein weiteres Hochkochen der Thematik muss unterbunden werden.«?
Wer ist unser J. Edgar Hoover, der die Aufklärung eines schlimmen Verbrechens verhindern will – wie vor 55 Jahren das FBI beim Bombenanschlag auf die Kirche in Birmingham?