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Titel1818

Aufstehen gegen Wischiwaschismus  (Conrad Taler)

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Deutschland eine außerparlamentarische Gegenmacht zur Eindämmung des Rechtsextremismus braucht, dann haben ihn die Ereignisse von Chemnitz erbracht. Hinzu kommt, dass linke Positionen im Parlament keine Chance haben. Die SPD sitzt auf Angela Merkels Schoß, und falls da was schiefgeht, stehen FDP und Grüne als Mehrheitsbeschaffer bereit. Da kann etwas Druck von außen nur gut tun. Insofern war eine Sammlungsbewegung, die zum Aufstehen gegen Rechts und den Wischiwaschismus der Mitte ermuntert, längst überfällig.

 

Dass das Unternehmen binnen weniger Wochen mehr als 100.000 Mitstreiter fand, legitimiert die Sammlungsbewegung, sich fortan mit eigener Stimme am öffentlichen Diskurs zu beteiligen, wie das die Grünen mit lediglich 65.000 Mitgliedern oder die Freien Demokraten mit lediglich 63.000 Mitgliedern mit größter Selbstverständlichkeit tun. Sahra Wagenknecht wird diese Aufgabe mit Rücksicht auf ihre Tätigkeit als Vorsitzende der Links-Fraktion im Bundestag auf Dauer nicht übernehmen können, steht sie doch damit in gewisser Weise in Konkurrenz zu sich selbst. Kritik kommt hauptsächlich aus den eigenen Reihen. Tatsächlich dürfte es für die Linkspartei eher von Nutzen sein, wenn über die Parteigrenzen hinaus ein Bewusstsein für die Probleme des Landes entsteht.

 

Anders als Horst Seehofer, der Migration für die »Mutter aller Probleme« hält, sieht Sahra Wagenknecht die soziale Frage als Kernproblem. In der Tat hat sich immer wieder gezeigt, dass soziale Probleme zu politischen Spannungen führen und dem Nationalismus Vorschub leisten. Die Instrumentalisierung eines Großteils der Sudetendeutschen für Hitlers Pläne zur Zerschlagung der Tschechoslowakei war nur möglich, weil die Weltwirtschaftskrise in den industriell geprägten deutschen Randgebieten des Landes Massenarbeitslosigkeit und soziale Deklassierung bewirkt hatte. Die Annexion dieser Gebiete durch Nazideutschland jährt sich demnächst zum 80. Male. »Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem Schritt, sondern mit vielen kleinen Schritten, von denen jeder zu klein zu sein schien für eine große Empörung.« Der Satz stammt von dem österreichischen Schriftsteller Michael Köhlmeier. Er sagte ihn auf einer Feier des Parlaments in der Wiener Hofburg zum Gedenken an die Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen.

 

Dass jetzt in Chemnitz der Faschismus seine Fratze gezeigt hat, scheint manche wachgerüttelt zu haben, von denen man es nicht unbedingt erwarten konnte. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Dieter Kempf, sprach laut Süddeutscher Zeitung vom 5. September von »unerträglichen« Nachrichten und Bildern. Männer wie er werden sich deswegen nicht gleich der linken Sammlungsbewegung anschließen, zumal deren politische Intentionen über die Abscheu vor dem Treiben rassistischer Hetzer hinausgehen an die sozialen Wurzeln des Bösen. Im Gründungsmanifest wird die Mitverantwortung des Großen Geldes für die ungerechte Verteilung der Reichtümer dieser Welt angesprochen. Der Profit triumphiere über das Gemeinwohl, heißt es dort, das Geld über die Demokratie.

 

Höchste Zeit, dass die deutsche Sozialdemokratie, einst Schutzpatronin für Menschen in Not, sich aus dem Schatten Angela Merkels befreit, deren Wischiwaschismus 5,8 Millionen Wähler in die Arme der AfD getrieben hat. Den Rest besorgte Horst Seehofer, der die Migranten zum Vergnügen all derer, die jetzt in Chemnitz ihrem Frust und ihrem Hass auf die Ausländer freien Lauf ließen, wieder einmal als Schuldige ausgemacht hat. »Jeder Sündenbockmechanismus erwächst aus Charakterschwäche«, lesen wir bei Fritz Bauer in einem Text aus dem Jahr 1960. »Je schwächer die Leute sind und je mehr sie von Minderwertigkeitskomplexen geplagt werden, desto mehr rufen sie nach Härte und desto gewalttätiger und brutaler treten sie auf. Die Kraftmeierei des Nazismus, sein Geschrei, seine Demonstrationen, seine Verbrechen, waren die Maske von neidischen Schwächlingen.« Vielleicht erinnert die linke Sammlungsbewegung gelegentlich an den unermüdlichen Mahner. Was er kurz nach Beginn des Auschwitz-Prozesses sagte, ist hochaktuell: »Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.«