Ich war jüngst im Gespräch mit einem Kollegen, der als Gewerkschaftsfunktionär immer konsequent gegen Ungerechtigkeiten ankämpft. Wir kamen auf die geringere Bezahlung und längere Arbeitszeit im Osten Deutschlands im Verhältnis zur alten BRD zu sprechen. Da argwöhnte er, lakonisch und zu meinem Erstaunen: »Im Osten weigert man sich aber auch flächendeckend in Gewerkschaften einzutreten. Gute Arbeitsbedingungen fallen halt nicht vom Himmel und werden einem auch nicht geschenkt.« Einen Moment war ich irritiert, fragte jedoch nach ein paar Schrecksekunden: »Wie hoch ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad im Westen? Wie hoch ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad im Osten? Wie viele Großbetriebe gibt es im Westen, und wie viele Großbetriebe gibt es im Osten?« Aus dem Stand war das nicht zu beantworten, also forschten wir nach:
In Niedersachsen gibt es 3,0 Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigte Arbeitnehmer*innen und 680.000 Mitglieder in den DGB-Gewerkschaften; das entspricht einem Organisationsgrad von etwa 22,8 Prozent. In Sachsen-Anhalt gibt es 800.000 sozialversicherungspflichtig beschäftigte Arbeitnehmer*innen und 153.000 Mitglieder in den DGB-Gewerkschaften; das entspricht einem Organisationsgrad von etwa 19,2 Prozent – also kein signifikanter Unterschied, entgegen der Aussage des Kollegen, im Osten weigere man sich flächendeckend, in Gewerkschaften einzutreten.
Es gibt einen weiteren wichtigen Aspekt, der am Ende eher für ein höheres gewerkschaftliches Bewusstsein beziehungsweise eine stärkere Organisationsbereitschaft im Osten spricht: In Niedersachsen gibt es Industriebetriebe mit vielen tausenden Beschäftigten: 60.000 bei Volkswagen in Wolfsburg, weitere 40.000 in den anderen Standorten von VW. Dazu kommen Stahl- und Hüttenwerke, Elektronikhersteller wie Bosch und große Zulieferfirmen wie Conti oder VARTA sowie viele große Mittelständler. In Sachsen-Anhalt ist die Bahn mit 7000 Beschäftigten der größte Arbeitgeber, gefolgt von Dow mit 5200 und der Post mit 5100 Beschäftigten, dem Universitätsklinikum in Halle mit 3500 Beschäftigten, dann kommen schon der Einzelhandel (Edeka, Lidl, Metro) sowie die Landes- und Stadtverwaltungen mit ihren Ministerien und Eigenbetrieben. Ansonsten: viele kleinere Betriebe, kaum welche mit mehr als 100 Beschäftigten. Außerdem typisch für die Glücksritter, die überwiegend aus dem Westen kamen und Betriebe zu Schnäppchenpreisen von der Treuhand bekamen: Tarifflucht und Gewerkschafs-Bashing. So ist es für die Beschäftigten in Sachsen-Anhalt wie in den anderen ostdeutschen Bundesländern viel schwieriger, ihre sozialen und demokratischen Rechte gegen die Unternehmer durchzusetzen, die bis 1990 und im Westen zum Teil heute noch auf Sozialpartnerschaft machen. Deshalb die schreiende und andauernde Ungerechtigkeit einer um mindestens drei Stunden längeren Wochenarbeitszeit und im Schnitt fast 5000 Euro weniger Lohn pro Jahr im Osten.
Im Kampf um die Durchsetzung der 35-Stunden-Woche im Jahr 2003 sagte der damals in der IG Metall für Tarifpolitik zuständige Kollege Jürgen Peters im Beirat seiner Gewerkschaft: »Der Osten soll zum neoliberalen Exerzier- und Experimentierfeld werden. […] Sie wollen die 38 im Osten zementieren, um sie dann wieder in den Westen zu exportieren. […] Der Konflikt, den wir hier führen, ist ein Konflikt um grundsätzliche Fragen.« Er hatte Recht – und leider hat sich diese reaktionäre Entwicklung auch durchgesetzt.
Was lehrt diese Erfahrung, und was lehrt das Gespräch, mit dem ich diesen Text begonnen habe?
Wenn mein Gesprächspartner, der sonst unbeirrt für Gerechtigkeit kämpfende Kollege, sogar sachlich Recht gehabt hätte: Was ist mit Solidarität statt Konkurrenz? Es gibt kein fremdes Leid. Wenn die sozialen Verhältnisse im Osten nicht an die im Westen angeglichen werden, wird es umgekehrt passieren – wir befinden uns mitten in diesem Prozess. Die Empathie und die Solidarität mit den Menschen in den ostdeutschen Bundesländern liegt im wohlverstandenen eigenen Interesse der abhängig Beschäftigten in den westdeutschen Bundesländern: Die Arbeitszeitmauer und die Tarifmauer müssen weg! Die Niedriglohnpolitik und die Sparpolitik haben wesentlich zur Wut der Menschen und zum Aufstieg der Rechten beigetragen. Die Philosophin Bini Adamczak stellt richtig fest: »Wo es nicht gelingt, der […] ökonomischen Angst mit einem Angebot sozialer Sicherheit zu begegnen, der Politik der Spaltung mit der Einladung zu universeller Solidarität zu antworten, fassen die reaktionären Krisenlösungsstrategien Fuß – sexistische Segregation, rassistische Exklusion, nationale Militarisierung« (Die Zeit, 20.8.2018). Nicht nur in Ostdeutschland, sondern selbst im wohlhabenden Bayern und Baden-Württemberg ist das zu beobachten. Was zu sagen bleibt, hat Bertolt Brecht bereits formuliert: »Vorwärts und nicht vergessen,/ worin unsere Stärke besteht!/ Beim Hungern und beim Essen,/ vorwärts und nie vergessen:/ Die Solidarität!«