Das Ignorieren zigtausender Toter, zerstörter Viertel, vertriebener Bürger und traumatisierter Kinder ist ein Skandal.
Ein Jahr nachdem die letzten Viertel Mossuls aus den Händen des »Islamischen Staates« (IS oder arab. Daesch) zurückerobert wurden, liegt ein Großteil der einstigen Metropole noch in Trümmern.
In West-Mossul graben Freiwillige immer noch in den Ruinen und Schutthaufen nach den sterblichen Überresten derer, die den Sturm auf ihre Stadt nicht überlebten. Mehr als 5200 Leichen wurden in den letzten Monaten allein aus den Überresten der historischen Altstadt der Stadt geborgen, wo nur wenige Gebäude das Bombardement überstanden hatten. Der größte Teil der Opfer des monatelangen erbitterten Kampfes um die westlich des Tigris liegenden Viertel dürfte aber auf Dauer verschüttet bleiben.
Die US-geführte Allianz aus NATO-Staaten, Australien, Jordanien und Marokko, die mit massiven Luftangriffen den irakischen Bodentruppen den Weg freibombte, übernahm bisher nur die Verantwortung für 326 Tote während der gesamten militärischen Offensive, einer Offensive, die US-Kommandeure andererseits als eine der tödlichsten urbanen Schlachten seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnen. Weder die USA, deren Bomber den Großteil der Angriffe flogen, noch andere beteiligte Länder sandten jemanden in die Stadt, um die Folgen des fast neunmonatigen Bombardements zu untersuchen. Sie hätten nicht die Ressourcen, um ein Team nach Mossul zu senden, erklärte Washington lapidar, während das US-Kommando im Irak vermeldete, keine ausreichende Informationen zu Vorwürfen über zivile Opfer zu haben, um sie bewerten zu können, die meisten jedoch für »nicht glaubwürdig« halte.
Eine dreiste Behauptung angesichts von rund 29.000 Bomben und Raketen, die die Allianz nach eigenen Angaben auf die dicht besiedelten Stadtviertel abgefeuert haben, in denen noch Hunderttausende Menschen eingeschlossen waren (siehe Ossietzky, 15 und 18/2017). Die britische Initiative Airwars, die täglich Berichte über Luftangriffe in Syrien und im Irak auswertet und Informationen über zivile Opfer auf ihrem Portal airwars.org veröffentlicht, zählte 5805 Zivilisten, die mit großer Wahrscheinlichkeit während der Offensive auf West-Mossul vom 19. Februar bis 19. Juni 2017 Angriffen der US-Allianz zum Opfer fielen.
Der führende kurdische Politiker Hoshyar Zebari, bis 2016 irakischer Außen- und Finanzminister, geht auf Basis irakisch-kurdischer Geheimdienstquellen von 40.000 Toten aus. Auch der Historiker Omar Mohammed, der während der Daesch-Herrschaft auf seinem vielbeachteten Blog Mosul Eye aus Mossul berichtet hatte, schätzt die Zahl der Toten auf mehrere Zehntausend. Jeden Tag habe er Berichte über Familien erhalten, die Opfer von Luft- oder Artillerieangriffen geworden waren. Meist seien dabei zwischen 20 und 25 Menschen pro Haus getötet worden, manchmal aber auch mehr als 40.
Wie schon nach der US-geführten Invasion 2003 und den verheerenden Kämpfen unter der Besatzung bemühten sich einige US-amerikanische und irakische Wissenschaftler in Eigeninitiative, vor Ort genauere Informationen über die Zahl der Opfer zu erlangen. Riyadh Lafta von der Al-Mustansiriya-Universität in Bagdad und Gilbert Burnham von der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health in Baltimore, die bereits führend an den sogenannten Lancet-Studien über die Opfer von Krieg und Besatzung beteiligt waren, führten zusammen mit Maha A. Al-Nuaimi vom Nationalen Zentrum für die Erforschung und Behandlung von Bluterkrankungen in Bagdad repräsentative Umfragen in der Stadt durch. Sobald die irakische Armee den Zugang Ende März 2017 in den Ostteil und Mitte Juli in den Westteil Mossuls freigaben, erkundigten sie sich bei 1202 Haushalten in 40 zufällig ausgewählten Stadtvierteln (25 im Osten und 15 im Westen) nach Angehörigen, die seit dem Einmarsch des Islamischen Staates gestorben, getötet, entführt oder verwundet worden waren. Die Ergebnisse der Umfrage erschienen am 15. Mai in der renommierten Fachzeitschrift PLOS Medicine.
Insgesamt berichteten die Befragten von 628 Todesfällen im fraglichen Zeitraum vom Juni 2014 bis Juni 2017. Durch »gezielte Gewalt« starben 505 Angehörige, davon sieben durch Enthauptungen des Daesch und acht im Zuge von Entführungen durch die Miliz. Sieben Personen werden noch vermisst. Die meisten Todesfälle, insgesamt 497, ereigneten sich nach Beginn der Offensive ab Oktober 2016. Unter der männlichen Bevölkerung stieg ab diesem Zeitpunkt die Sterblichkeit von durchschnittlich 0,7 Todesfällen pro 1000 Personen im Monat auf 13,4 während der Angriffe, die der weiblichen von 0,5 auf 8,3 pro 1000 Personen. Summiert über die Dauer von achteinhalb Monaten sind das 108 beziehungsweise 66 mehr Tote pro 1000 Personen als im gleichen Zeitraum davor. Damit kamen ungefähr jeder neunte männliche Bewohner und jede fünfzehnte weibliche Bewohnerin infolge des Feldzugs ums Leben.
Da keine zuverlässigen Angaben über die Bevölkerungszahl in Mossul zur Zeit der Offensive vorliegen, werden in der Studie keine Hochrechnungen zur Abschätzung der Gesamtzahl der Opfer gemacht. Auf Basis der Entwicklung der Flüchtlingszahlen kann man aber davon ausgehen, dass sich während der Offensive im Schnitt mindesten eine Million Menschen in der Stadt aufhielten. Zu Beginn muss die Einwohnerzahl noch bei gut 1,5 Millionen gelegen haben. Vor dem Sturm auf den Westteil ging die UNO von 750.000 dort Eingeschlossen aus. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR registrierte insgesamt 1,1 Millionen Menschen, die nach Beginn der Offensive bis September 2017 aus der Stadt geflohen sind, 700.000 davon erst in den letzten Monaten der Kämpfe aus dem Westen.
Rechnen wir den Anstieg der monatlichen Sterblichkeitsraten unter der Annahme von einer Million Einwohnern hoch, so müssen wir davon ausgehen, dass ungefähr 33.000 weibliche und 54.000 männlichen Bewohner Opfer der militärischen Offensive wurden. Da die Studie aufgrund der flächendeckenden Zerstörungen und der Vertreibung eines Großteils der Bevölkerung nach Einschätzung ihrer Autoren vermutlich viele Tote nicht erfassen konnte, dürften die tatsächlichen Zahlen höher liegen. Sie enthalten alle Getöteten, Zivilisten wie bewaffnete Dschihadisten oder andere Kämpfer. Bei den weiblichen Toten handelt es sich jedoch sicherlich überwiegend um zivile Opfer, und es ist anzunehmen, dass unter den männlichen mindestens ähnlich viele keine Kombattanten waren.
Die meisten Opfer, rund 40 Prozent, wurden nach Angaben der Befragten durch Luftangriffe getötet, das heißt durch Angriffe der US-Allianz, weitere 34 Prozent durch »Explosionen«, worunter alle Arten von Artilleriegeschossen, Minen und Bodenraketen zusammengefasst wurden. Da diese sowohl von Kämpfern des Islamischen Staates eingesetzt wurden als auch von den angreifenden Bodentruppen, sind sie im Unterschied zu den Luftangriffen nicht eindeutig einer Partei zuzuordnen. Berichten von Airwars.org, Amnesty International und Human Rights Watch zufolge, setzen die irakischen Streitkräften aber in hohem Maße auf ihre Artillerie und führten eine enorme Zahl von Artillerieangriffen auf die dichtbesiedelten Viertel Mossuls aus. Auch amerikanische und französische Einheiten beteiligten sich und feuerten allein im Juni 2017 über 4000 Salven ab. Man kann daher davon ausgehen, dass auch die meisten Opfer von »Explosionen« auf das Konto der Angreifer gehen. Durch Schüsse starben weitere 17 Prozent, durch Autobomben knapp vier und durch Enthauptungen des Daesch 1,4 Prozent.
Falls Journalisten westlicher Medien überhaupt auf zivile Opfer der Rückeroberung Mossuls eingehen, so verweisen sie ‒ im Unterschied zum Beispiel zur Berichterstattung über die Befreiung Aleppos aus der Herrschaft islamistischer Milizen ‒ gern darauf, dass der Daesch die Bevölkerung als menschliches Schutzschild missbraucht habe. In der Tat hat er sie mit Gewalt an der Flucht zu hindern versucht. Gleichzeitig hat aber auch die irakische Armee Flugblätter über der Stadt abwerfen lassen, die die Bewohner aufforderten, in den Häusern zu bleiben. Aus welchen Gründen sie geblieben sind, ist jedoch nicht entscheidend. So oder so hätte die Rücksicht auf ihr Leben absolut Priorität haben müssen. Stattdessen ließen die Angreifer schwere Bomben und zigtausende Artilleriegeschosse auf dichtbebaute Stadtviertel niederregnen, in denen bekanntermaßen noch Hunderttausende Menschen ausharren mussten. Über die Hälfte aller Gebäude in West-Mossul wurde dabei, wie sicherlich auf den Aufnahmen der Luftaufklärung der NATO gut zu erkennen war, völlig zerstört, viele Stadtviertel dem Erdboden völlig gleichgemacht. Allen Beteiligten, inklusive den Verantwortlichen in der Bundeswehr und der deutschen Regierung, musste von vorneherein klar gewesen sein, dass dabei Zigtausende unter den Trümmern begraben werden. Dennoch hatte die US-geführte Allianz, im Unterschied zur syrischen und russischen Armeeführung in Aleppo und anderen syrischen Städten, zu keinem Zeitpunkt Anstrengungen unternommen, einen solchen apokalyptischen Endkampf zu vermeiden. Es handelt sich somit zweifelsohne, wie auch Amnesty International in ihrem Bericht »At any cost: The civilian catastrophe in West Mosul«, feststellte, um ein schweres Kriegsverbrechen, um einen fürchterlichen Massenmord.
Es ist, wie der renommierte britische Nahostkorrespondent Patrick Cockburn zu Recht beklagte, ein beschämender Skandal, dass die westliche Öffentlichkeit einfach über ein derartiges Menschheitsverbrechen hinweggehen konnte. Auch die oben erwähnte PLOS-Studie wurde mit Ausnahme des britischen Telegraph in keinem der Mainstream-Medien mit einer Silbe erwähnt. Für die Friedensbewegung war die im Zuge des Krieges gegen Daesch begangene Zerstörung ganzer Städte bisher ebenfalls kaum ein Thema.
Nachdem der an sich zu erwartende Aufschrei der Empörung wie schon im Fall der Verwüstung von Falludscha und Ramadi ausblieb, wiederholte sich bald darauf das Verbrechen in ähnlicher Form im syrischen Raqqa. Amnesty International spricht im Zusammenhang mit dessen Rückeroberung von einem »Vernichtungskrieg«.