Morallye
Die Wahrheit soll man nicht verstauben.
Sie ist jedoch kein Sittenpächter.
Und eine Lüge, welche alle glauben,
ist auch nicht schlechter.
GünterKrone
Kriegerdenkmal entzweit Spanien
Am 24. August beschloss die spanische Regierung ein Dekret zur Umbettung des faschistischen Diktators Francisco Franco. Das Franco-Grab im »Valle de los Caídos« soll nicht weiter als Pilgerstätte für Rechtsextreme dienen. Damit die Exhumierung von Franco und dem Gründer der faschistischen Falange-Bewegung, José Antonio Primo de Rivera, beginnen kann, muss das Parlament der Umbettung noch zustimmen. Mit dem vom Kabinett beschlossenen Dekret wird die Umbettung erleichtert. Der sozialistische Regierungschef Pedro Sánchez hatte sich bereits kurz nach seiner Amtsübernahme im Juni für eine baldige Exhumierung des spanischen Diktators ausgesprochen. Nach der Kabinettssitzung sagte die Vizeregierungschefin Carmen Calvo: »Wir tun es, weil wir an die Zukunft denken und an die jüngeren Menschen, damit sie bessere ethische und moralische Bedingungen vorfinden und so etwas nie wieder passiert. Ein Staatsgrab für einen Diktator ist nicht kompatibel mit einer reifen Demokratie. In Deutschland oder Italien wäre das undenkbar.« (El País, alle Übers. K.-H. W.) Damit genügend Zeit zur Durchführung der Umbettung besteht, gilt das Dekret ein Jahr.
Bisher war das Vorhaben stets an juristischen Fragen und dem Widerstand der Familie Franco gescheitert. Die Partido Popular (PP) und die Bürgerpartei Ciudadanos haben bereits angekündigt, dass sie das Dekret im Parlament nicht unterstützen werden. Der Vorsitzende der PP, Pablo Casado, nannte die Umbettung unverantwortlich, er sagte: »Bereits geheilte Wunden werden wieder aufgerissen.« (El Mundo)
Wann sich nach dem Willen der PSOE-Regierung die eineinhalb Tonnen schwere Grabsteinplatte hebt und der Zinksarg mit den sterblichen Überresten des Diktators verschwindet, ist heute noch nicht abzusehen. Wann sich das »Tal der Gefallenen« in einen Ort der Versöhnung und des Friedens für alle Spanier verwandelt, ebenso wenig. Bereits ein Gesetz aus dem Jahr 2007, eingebracht vom Ministerpräsidenten José Louis Rodríguez (PSOE), fordert unter anderem, franquistische Symbole zu tilgen. Doch wie die schwere Grabplatte auf Francos Grab lastet die Vergangenheit auf dem Land.
Das »Monumento Nacional de Santa Cruz del Valle de los Caídos« (Nationale Heiligkreuz-Gedenkstätte im Tal der Gefallenen) wurde ab 1940 von Zwangsarbeitern zur Verherrlichung von Francos Sieg über die Republik gebaut (siehe Ossietzky 13/2011 und 19/2013). Weithin sichtbar ist das 155 Meter hohe und 44 Meter breite Betonkreuz. Die Basilika, eine künstliche Höhle von 263 Metern Länge, wurde in den Felsen der Sierra Guadarrama getrieben.
Unter der 52 Meter hohen Kuppel befinden sich die Gräber von Franco und Primo de Rivera. Täglich um 11 Uhr lesen an Francos Grab Benediktinermönche eine Messe. Am Sonntag wird sie landesweit im Fernsehen übertragen. Hinweise auf die Gebeine der 33.847 Gefallenen – Francos Soldaten oder Republikaner – gibt es nur für 21.317 der Toten. Die Akten liegen im Benediktinerkloster. Erst auf Fürsprache der katholischen Kirche kamen durch Umbettung aus Massengräbern auch Republikaner ins Valle. Häufig geschah es gegen den Protest der Angehörigen. An den Türen, hinter denen die Toten liegen, steht »Gefallen für Gott und Spanien: 1936 bis 1939«.
Die Absicht, aus dem Tal ein Museum der Erinnerungen zu schaffen, hat Ministerpräsident Pedro Sánchez aus Kostengründen bereits wieder verworfen. Im spanischen Parlament beginnt nun der Kampf um die Zustimmung für die Exhumierung des Diktators Franco.
Karl-H. Walloch
Mietwohnungs-Splitter
Wohnungsknappheit in Innenstädten? Ja, aber nicht bei Ferienwohnungen, die ehemals normaler Wohnraum waren.
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Die Mietpreisbremse brauchte dringend einen Bremskraftverstärker.
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Mietspieglein, Mietspieglein an der Wand, welches ist die teuerste Wohnung im Land?
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Eine Mietpreisüberhöhung ist lediglich eine Ordnungswidrigkeit, und Mietpreiswucher lässt sich vor Gericht kaum beweisen.
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Miethai – das Wort ist aus mancherlei Journalistenmunde zu hören; Vielleicht schafft der Begriff es zum Unwort des Jahres. Haie können Blut in milliardenfacher Verdünnung wahrnehmen. Sie blättern so ihre Beute schon aus großer Entfernung. Londoner Miethaie sollen sogar eine gute Rendite in Berlin über 933 Kilometer Luftlinie schnuppern.
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Elektrifizierung – kann ich meine Stromrechnung bezahlen? Gentrifizierung – kann ich meine Wohnungsmiete weiter bezahlen?
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Bei der Wohnungsbesichtigung sollte man tunlichst keinen Zollstock in der Hand halten; der Vermieter könnte denken, man wolle die von ihm angegebene Quadratmeterzahl nachmessen.
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Ist der Arbeitsvertrag befristet, frisst das die Hoffnung auf einen Mietvertrag auf.
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Hinter dem harmlosen Begriff Instandsetzung kann sich eine Renditeerwartung von elf Prozent wegen Luxussanierung verbergen.
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Auf Eigenbedarf vom Vermieter verklagt zu werden – da muss der Mieter nicht gleich vom Glauben abfallen, sondern die Rechtmäßigkeit auf Treu und Glauben hinnehmen oder ein Detektivbüro einschalten.
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Eigentum verpflichtet, sagt das Grundgesetz, aber wozu auf dem Wohnungsmarkt, das sagt es nicht.
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Hausbesitzer und Hausbesetzer unterscheiden sich durch einen Vokal und dadurch, dass Ersterer die städtischen Angestellten, den Gerichtsvollzieher und die Polizei auf seiner Seite hat.
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Ein Haus entmieten – das klingt wie entmisten und spielt sich manchmal auch so ab.
Dietrich Lade
Raubtierkapitalismus
Im Mai 1913 erschien in der in Berlin herausgegebenen expressionistischen Zeitschrift Der Sturm ein Text des deutschen Schriftstellers Alfred Döblin, der sich »An Romanautoren und ihre Kritiker«, so sein Titel, richtete und in dem Döblin für den Montageroman warb und die »Tatsachenphantasie« postulierte. Sie sollte es den Schriftstellern ermöglichen, »realhistorische Ereignisse und Personen der fiktionalen Eigengesetzlichkeit zu unterwerfen«, heißt es dazu erläuternd in Kindlers Literatur Lexikon in einem Beitrag von Gabriele Sander.
Eine Autorin von heute, die dieses Postulat mustergültig umsetzt, ist die promovierte französische Wirtschaftshistorikerin und Kriminalschriftstellerin Dominique Manotti (75). Ihren Stil kennzeichnete die Übersetzerin Iris Konopik bei einer Lesung der Autorin in Hamburg als »sachlich-journalistische Faktendichte, schlaglichtartig verknappt und literarisch durchgearbeitet«. Vorgestellt wurde der neue Roman »Kesseltreiben«, Originaltitel: »Racket«.
Der Roman wurde »sehr frei« inspiriert von der Übernahme des französischen Unternehmens Alstom Énergie durch den US-amerikanischen Konzern General Electric. Die Pläne zum Verkauf des gesamten Energiegeschäfts, das 71 Prozent des Konzernumsatzes ausmachte, an den Konkurrenten aus Übersee waren im Frühjahr 2014 bekannt geworden. Anfangs stemmte sich der französische Staat gegen den Deal, aus Deutschland legte Siemens eine Gegen-Offerte vor, unterstützt von dem damaligen Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Doch dann ging es schnell, und schon im November genehmigte die französische Regierung den Verkauf der Energiesparte an die 1890 vom Glühlampenerfinder Thomas Alva Edison gegründete Company.
Wie kam es dazu? Wer hat da die Strippen gezogen? Wo und warum? Manotti, so berichtete sie in Hamburg, begann als geschulte Historikerin die Tatsachen zu recherchieren und die Fakten zu sortieren. Und wenn sie auf »schwarze Löcher« stieß, wenn keine Unterlagen zur Klarheit beitrugen und kein Whistleblower aufstand, dann habe sie diese Lücken gefüllt: So oder so könnte es gewesen sein. Eben: Tatsachenphantasie.
Das Ergebnis: ein rasanter Wirtschaftskrimi, in dem nicht ganz saubere Geschäftsleute, persönliche Fehltritte, Intrigen, Nachrichtendienste, Mafia, Korruption in Politik und Wirtschaft sowie viel, viel Geld eine entscheidende Rolle spielen. Raubtierkapitalismus pur, gegen den auch das ermittelnde Team aus der »Abteilung zum Schutz der wirtschaftlichen Sicherheit« der eigenständigen Pariser Polizeibehörde DRPP am Ende machtlos ist.
Nachbemerkung: Schon vor über 300 Jahren wusste Jonathan Swift als »tiefschürfender Kritiker« des Systems »räuberischer Kommerzialisierung des öffentlichen und privaten Lebens« (»Geflügelte Worte«, VEB Bibliographisches Institut Leipzig, 1984): »Man muss den guten Willen für die Tat nehmen.« In diesem Sinne hat sich für den früheren Wirtschafts- und Außenminister Gabriel im Nachhinein das damalige Eintreten für Siemens doch noch gelohnt. Der börsennotierte Alstom-Konzern ist seit dem Verkauf der Energiesparte hauptsächlich als Hersteller von Schienenfahrzeugen für den Fernverkehr tätig. Im September 2017 wurde bekannt, dass Alstom den Kern des Ende 2018 seine Arbeit aufnehmenden Unternehmens Siemens-Alstom bilden wird, in das Siemens seine Transportsparte einbringen wird. Am 16. Mai dieses Jahres wurde gemeldet, dass Gabriel die Bundesregierung »umfassend über seine geplante Berufung in den Verwaltungsrat der geplanten Bahnallianz« informiert hat.
Klaus Nilius
Dominique Manotti: »Kesseltreiben«, aus dem Französischen von Iris Konopik, Ariadne im Argument Verlag, 395 Seiten, 20 €
Unsere Zustände
Das Interesse von Frau Merkel an der deutschen Fußballnationalmannschaft besteht wahrscheinlich deshalb, weil sie dahinterkommen will, was ein Eigentor ist.
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Wir sind Weltmeister im Ästeabsägen. Allerdings handelt es sich um Äste, auf denen wir selber sitzen.
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Vom Merkelismus zum Fatalismus ist es nur noch eine Formsache. Wenn ich sehe, wie Frau Merkel ihre Sätze durch energisches Kopfnicken verhärtet, durchfährt es mich: Da ist nichts mehr zu machen!
Wolfgang Eckert
Der Vater
Nach dem Erfolgsroman »Sie kam aus Mariupol« – der Geschichte ihrer Mutter – suchte Natascha Wodin nun nach dem Leben ihres Vaters und wurde weniger fündig, so dass mehr und mehr das eigene Schicksal in den Mittelpunkt gerät.
Die Familie nach dem Krieg als russische Fremdarbeiter nach Deutschland verschlagen, vegetierte am Rande menschlicher Existenz. Eine Weile versorgte der Vater sie dank seiner herrlichen Stimme als Chormitglied. Die Mutter nahm sich das Leben. Die Kinder (Natascha Wodin hatte noch eine jüngere Schwester) kamen zu Pflegeeltern, dann in eine Klosterschule, bis sie der Vater holte. »In die Häuser«, wo die Ausgestoßenen lebten. Der Vater soff und schlug. Überall waren sie ausgestoßen – Russen, keine Katholiken, keine Deutschen ...
Es ist ein bedrückendes Schicksal. Noch grausamer ist es dadurch, dass die Kinder sowohl unter ihrer Umgebung als auch dem Vater zu leiden hatten. Natascha Wodin erzählt nüchtern, aber sehr eindrucksvoll im Detail, wenn es um ihre Kindheit und Jugend geht. Sie, die als Kind den Vater hasste, will ihn nun nach Jahrzehnten begreifen. Eben das kann nur in Ansätzen gelingen. Es bleibt ein Rest.
Christel Berger
Natascha Wodin: »Irgendwo in diesem Dunkel«, Rowohlt-Verlag, 239 Seiten, 20 €
Der DDR-Einstein
90 Jahre alt wäre er in diesem Jahr geworden, der Astronom und Physiker Hans-Jürgen Treder. Aus diesem Anlass hat Monika Schulz-Fieguth einen beeindruckenden Band mit Fotografien herausgegeben, die sie von 1978 bis 1988 sowie in seinem Sterbejahr 2006 angefertigt hatte und die auch in einer Ausstellung im Planetarium der Urania Potsdam zu sehen sind. Ursprünglich sollte der Druck des Bandes im Aufbau-Verlag am 13. November 1989 beginnen, aber da kam »etwas« dazwischen, und die Drucklegung wurde sofort gestoppt. Der DDR-Einstein, wie er von vielen in einer Mischung aus Hochachtung und Ironie genannt worden ist, war offenbar sogleich zur »Unperson« geworden (bei andern dauerte das ein paar Wochen oder Monate länger), zumindest schien der Band dem Verlag nicht in ein im vorauseilenden Gehorsam sofort zu änderndes Programm zu passen. Heute hat sich daran nicht viel geändert, was schon daraus zu ersehen ist, dass der Band, von einigen Getreuen unterstützt, im Selbstverlag der Fotografin erscheinen musste. Umso schöner, dass die Vernissage sehr gut besucht und der Saal »proppevoll« war.
Mangels Fachkompetenz steht es mir nicht zu, Treders Leistungen in Physik und Astronomie zu würdigen. Aber so viel darf ich sagen, dass für mich als Wirtschaftshistoriker seine Darlegungen zur Geschichte des Universums – »Weltgeschichte sensu stricto« hat er sie einmal treffend genannt – ungemein stimulierend waren. Als ich ihn anlässlich der Lektüre seines Aufsatzes über die räumliche Hierarchie kosmischer Systeme darauf aufmerksam machte, dass sich zu den Grenzen der Rückverfolgbarkeit der Vorgeschichte kosmischer Systeme bei Marx in den »Grundrissen« eine analoge Aussage zur Vorgeschichte ökonomischer Systeme finde, antwortete er ganz begeistert und mich zugleich korrigierend, dass es sich nicht um eine Analogie handle, sondern um eine Homologie, die er sehr bemerkenswert fände.
Treder war kein eng spezialisierter Astrophysiker, sondern ein ungemein belesener und gebildeter Gelehrter, seine Vorlesungen zur Geschichte der Physik waren legendär und wurden auch von gestandenen Fachkollegen besucht, ebenso von allgemein an der Wissenschaftsgeschichte Interessierten und von Leuten, die ihn einfach mal erleben wollten. In seinem wohl letzten, 1998 gehaltenen Vortrag über Parmenides und die Begründung von Ontologie und Kosmologie zitierte er den antiken Philosophen selbstredend im Original und anschließend in eigner Übersetzung. Da schwang sicherlich auch eine gehörige Portion Eitelkeit und Selbstinszenierung mit, die für Treder ebenso charakteristisch waren wie eine gewisse Schrulligkeit und der sorgfältig drapierte Wattebausch im Ohr.
Treder war aber auch ein eminent politischer Mensch, seit 1946 SED-Mitglied und einer der Mitbegründer der FDJ in Berlin-Charlottenburg. Während seines Studiums an der dortigen Technischen Universität bekam er wegen seiner politischen Aktivitäten Schwierigkeiten und gehörte in den 1950er Jahren zu jenen »Geisterfahrern«, die in Westberlin wohnten und in Ostberlin arbeiteten und dann, nach dem Mauerbau, in die DDR übersiedelten. Das Zusammendenken von Physik und Philosophie gehörte von Anfang an zu seinen Themen, und der »Dialektik der Natur« von Friedrich Engels konnte er immer wieder neue Facetten abgewinnen. So ein Mann war, wen wundert’s, nach den Abwicklung genannten Zerstörungen in der neu zu errichtenden Wissenschaftslandschaft »im Osten« nicht zu gebrauchen.
Es ist ein Glück, dass dieser Band doch noch erschienen ist, wenn auch mit fast dreißig Jahren Verspätung. Die Fotografien, sämtlich schwarz-weiß mit wunderbaren Grauschattierungen, sind nie voyeuristisch und zeigen doch den ganzen Mann, selbstinszeniert am Schreibtisch und selbstvergessen in der Vorlesung, mit Patenkind auf dem Fußboden spielend und mit Cognacschwenker, im schwarzen Anzug eine Ehrendoktorwürde entgegennehmend und in einem unglaublich schlampigen Aufzug die offiziellen Glückwünsche zu seinem 60. Geburtstag. Das war Treder, wie er leibt und lebt. Hut ab, vor dem Porträtierten und »seiner« Fotografin.
Thomas Kuczynski
Monika Schulz-Fieguth: »Hans-Jürgen Treder. Ein Porträt«, Selbstverlag Potsdam. 127 Seiten. 35 €; zu bestellen via E-Mail: m@schulz-fieguth.de. Die Ausstellung ist bis 15. November im Planetarium der Urania Potsdam, Gutenbergstraße 71/72, zu sehen.
Zuschriften an die Lokalpresse
Da hat die Berliner Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (Die Linke) einen kühnen Coup gegen die Berliner Wohnungsnot und gegen Mietwucher gelandet! DDR-Plattenbauten, gelegentlich als »Arbeiterschließfächer« verunglimpft, vor 15 Jahren häufig »rückgebaut« oder von elf Stockwerken auf drei oder vier erniedrigt, sollen durch ein Pilotprojekt wieder »aufgestockt« werden. Dadurch soll der senatsproduzierte Wohnungsabbau, der laut Berliner Zeitung vom 7. September das Aus für Tausende gut ausgestattete Plattenwohnungen bewirkt hatte, mit überschaubarem Aufwand und vor allem mit Vernunft repariert werden. Eine Nachricht, die in einer Zeit, in der selbst hauptstädtische Halbinseln weggebaggert werden, einschlägt wie ein Blitz zum Herbstanfang. Mit etwas mehr Planungsvorlauf und Voraussicht hätten unsere Stadtmütter und -väter ebenso den voreiligen Abriss von Schulen und Kitas stoppen und Millionen einsparen können. Aber Schwamm drüber – eine Einsicht, die spät kommt, ist besser als eine, die gar nicht kommt. Wenn man erfährt, dass allein die Howoge GmbH, Berlins größte Wohnungsbaugesellschaft, über 32.000 Quadratmeter Freidachflächen verfügt (s. Berliner Kurier vom 5. September), kann man sich vorstellen, welche Reserven da erschlossen werden könnten. Es bleibt zu hoffen, dass das Vorhaben nicht zum kostenaufwändigen »Kunstprojekt« erstarrt, wie das für die teilweise Wiederbelebung der »Mauer« zu befürchten ist. Ich wünsche Frau Lompscher Stehvermögen und verlässliche Partner bei der Wiederbelebung verschwundener Wohnungen und hoffe, dass die ersten Neubezüge der wieder hochgezogenen Etagen noch vor der Einweihung des BER erfolgen können. – Alois Mauerbrecher (71), Rückbauleiter a. D., 12627 Berlin-Hellersdorf
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Einige Medien haben dieser Tage Multiressortminister Horst Seehofer (Inneres, Sport, Bau, Heimat, Verfassung ...) kritisiert, weil er die »Migrationsfrage« als »Mutter aller politischen Probleme« definiert hatte. Außerdem zeigte er Verständnis für ausländerfeindliches Verhalten. Ich finde es kreativ, dass Politiker mit Zitaten jonglieren, die schon in anderen Zusammenhängen Furore gemacht haben. Man soll aber die jeweiligen historischen Gegebenheiten und die Erfinder solcher Sprüche nicht außen vor lassen. Wenn schon Familien-Ikonen für Vergleiche und Aussagen herhalten müssen, wäre die Formulierung »Familienminister Seehofer ist der Stiefvater der Immigration« eine realistische Widerspiegelung der neuen Sachverhalte. – Sigismund Mackenrodt (53), Fallanalytiker, 07422 Oberwirbach
Wolfgang Helfritsch