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Titel1819

Ossietzky und die Einheitsfront  (Gerwin Udke)

»Noch ist die Zusammenfassung aller antifaschistischen Kräfte vorhanden. Noch! Republikaner, Sozialisten, Kommunisten, in den großen Parteien Organisierte und Versprengte – lange werdet ihr nicht mehr die Chance haben, eure Entschlüsse in Freiheit zu fassen und nicht vor der Spitze der Bajonette!«

 

Was soll dieser Text aus der Weltbühne vom 1. Dezember 1931 – heute? 2019 ist doch nicht 1931. Das ist selbstverständlich erst einmal nicht zu leugnen.

 

Aber diese Mahnung Carl von Ossietzkys ist für die Bundesrepublik und Europa aktueller denn je. Die Weimarer Justiz verurteilte Carl von Ossietzky 1931 wegen »Sabotage« und »Landesverrat« zu 18 Monaten Gefängnishaft. Die Nazis steckten ihn ins KZ. Dort ist er – wie tausende andere Kämpfer gegen den Faschismus – schwer misshandelt worden. An den Nachwirkungen starb er.

 

Sein Leben, sein Schicksal, sein politisches Wirken und seine aufrüttelnden Schriften im Kampf gegen Krieg und Faschismus sind eindringliche Mahnung für uns Heutige. Seine dringenden Appelle fürs Zusammengehen aller links-demokratischen Kräfte, für Einheitsfront und Aktionseinheit – das sind Wegmarkierungen für das Zurückdrängen der Neofaschisten heute.

 

Der pazifistische Journalist hatte Anfang der 1930er Jahre eindringlich vor der heraufziehenden Naziherrschaft gewarnt. Die Nazihorden wussten sehr wohl, was sie taten, als sie am 10. Mai 1933 auf dem Opernplatz in Berlin wutentbrannt rausschrien: »Verschlinge, Flamme, auch die Schriften von Tucholsky und Ossietzky!«

 

Ossietzky und andere engagierte Weltbühne-Autoren konnten die Machtübernahme durch die Nazis nicht verhindern. Aber sie haben als Linksintellektuelle, beseelt von der Idee einer »demokratisch-sozialen Republik«, vehement vor dem Weg ins faschistische »Dritte Reich« gewarnt. Sie hatten gehofft, mit ihren flammenden, die Faschisten entlarvenden Streitschriften das Zusammengehen von Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschaftern zu einem »Linksblock republikanischer Solidarität«, einem Bündnis aller irgendwie links orientierten Kräfte befördern zu können.

 

Es steht nicht an, in der historischen Rückschau lediglich resignierend zu konstatieren: »Es hat nichts genützt!« Es ist abwegig, Ossietzky und seine Mitstreiter einfach als »erfolglose Illusionisten« abzuqualifizieren. Genauer: Es ist schlicht und einfach nur schändlich und diffamierend, den Kämpfern für Einheitsfront und Aktionseinheit gegen den faschistischen Ungeist »Gefühlsduseligkeit der Volksfrontromantik« zu bescheinigen (so anmaßend der Historiker Hans-Ulrich Wehler, 1931–2014).

 

Und: Es ist heute allerhöchste Zeit, wieder eindringlich an Ossietzkys Einheitsfront-Mahnungen zu erinnern. Angesichts des Unvermögens der nunmehr weltweit herrschenden Mächte, die sich zuspitzenden ökonomischen, sozialen und politischen Prozesse zu steuern, erhöhen sich erneut dramatisch die Gefahren weiterer katastrophaler Entwicklungen.

 

Die die Bundesrepublik Regierenden und die dahinter agierenden, heillos zerstrittenen Parteien erweisen sich als unwillig, die fortschreitenden Prozesse der Globalisierung, des Klimawandels und der Digitalisierung zu bewältigen. Parteienlandschaft und Wählerstrukturen werden gehörig durcheinandergewirbelt. Die bisherigen sogenannten Volksparteien zerbröseln in ihrem Gerangel um Mitglieder und Wähler in der »Mitte« der Gesellschaft. Die Verschiebung der gesamten politischen Landschaft schreitet nach rechts voran.

 

Das bisher agierende Führungspersonal der SPD hat in der von der CDU/CSU beherrschten GroKo alle Möglichkeiten verspielt, unzufriedene und auf Veränderung ausgerichtete Bevölkerungsschichten zu gewinnen. Auch Die Linke war bislang nicht in der Lage, aus der existentiellen Krise der bürgerlichen Parteien tatsächlich wirkungsvollen Kraftzuwachs zu erlangen. Das Beharren maßgebender Funktionäre auf ideologischer Abgrenzung zu den anderen politischen Akteuren und das öffentliche Austragen strategischer Differenzen verhindern bisher das Zustandekommen handlungsfähiger oppositioneller Bündnisse. Interne Streitereien und ungelöste Personalprobleme behindern das politische Agieren.

 

Aktuell gewinnen die Grünen an Zuspruch. Hauptprofiteure sind aber letztlich allein die Rechtsextremisten der AfD. Unter Missbrauch wohltönender »volksnaher« Losungen erobern die Neonazis in rasantem Tempo politische Räume – auf den Straßen und bis hinein in die parlamentarischen Strukturen auf allen Ebenen. Die aktuellen Wahlergebnisse spiegeln wider: Immer mehr Wähler fallen auf die Versprechungen und Drohungen der Rechtsextremisten und Neofaschisten herein.

 

Die aus der Zeit des Kalten Krieges nachwirkenden traditionellen oppositionellen Abgrenzungsdenkmuster sind offensichtlich nicht geeignet, den weiteren Vormarsch der Neofaschisten zu stoppen.

 

Dem Vermächtnis Carl von Ossietzkys folgend sind gemeinsame Strategien aller handlungsfähigen demokratischen Akteure gegen einen weiteren Rechtsruck erforderlich. Letztlich kann die Macht der vor sich hin dümpelnden bürgerlichen Parteien nur durch das Zusammengehen der verschiedenen demokratischen Kräfte links von der CDU/CSU gebrochen werden. Und genauso kann der weitere Machtzuwachs der AfD nur durch das gemeinsame Vorgehen aller Demokraten zurückgedrängt werden.

 

In den 1930er Jahren mahnte Carl von Ossietzky: Es geht um das Zusammengehen von SPD, KPD, SAP, von Gewerkschaften, Katholiken und anderen Oppositionellen. Seine Appelle stimmten überein mit der Forderung Georgi Dimitroffs: »Das erste, was gemacht werden muß, womit man beginnen muß, ist die Schaffung der Einheitsfront, die Herstellung der Aktionseinheit …« (Bericht an den VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale, 2. August 1935).

 

Auch heute kann es nur heißen: »Bloß nicht weiter so!« Es ist höchste Zeit für die Suche nach machbaren Alternativen fürs Zusammengehen aller links-demokratischen oppositionellen Akteure. Im Ringen um weitere Stärkung der Friedenskräfte, um Klimaschutz, um ökologische Wende und Nachhaltigkeit, um mehr soziale Gerechtigkeit eröffnen sich neue Räume für gemeinsames politisches Handeln aller bisher Benachteiligten.

 

»Rot-Rot-Grün«, »Rot-Grün-Rot« oder »Grün-Rot-Rot« – das sind nicht mehr lediglich anmaßende oder gar weltfremde Gedankenspiele! Es geht darum, dass sich unter diesen Stichworten Wählergruppierungen zusammenfinden, die aus dem Versagen der bisher Regierenden und der Ohnmacht der Unzufriedenen und Resignierenden herausführen. Von unten her, ausgehend von übergreifenden gemeinsamen Interessen breiter Bevölkerungsschichten an einer ökologischen Wende können gestaltungsfähige politische Kräfte zusammenwachsen, die die Abgrenzungen des bisherigen Parteiengefüges überschreiten. Es könnten Bündnisse zustande kommen, die die Voraussetzungen schaffen, tiefgreifende Transformationsprozesse in Gang zu setzen.

 

Auf diesem Weg können sich Schritt für Schritt ganz real Möglichkeiten eröffnen, schließlich »die Systemfrage« zu stellen. Also in einem gegebenenfalls länger währenden Prozess die Eigentums- und Machtverhältnisse im Interesse demokratischer Bevölkerungsmehrheiten grundlegend zu verändern.

 

 

Dr. sc. jur. Gerwin Udke, Jahrgang 1939, studierte Rechtswissenschaft und war dann wissenschaftlicher Assistent und Dozent an der Humboldt-Universität zu Berlin. Später arbeitete er als Rechtsanwalt und Publizist.