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Titel1819

Bemerkungen

Scheinmeier

 

Während ihr darüber klagt,

was geschah, werdet ihr schuldig

an dem, was geschieht.

 

Während ihr über Kriegsverbrechen

der Vorväter sprecht, euch über

Unmenschlichkeit von damals erhebt,

seid ihr doch längst schuldig geworden

an neuem Unrecht. Euer Pathos wabert

durch Gazetten und Äther, so viel

Selbstgerechtigkeit,

zum Verzweifeln.

Der Balken im eigenen Auge.

 

Renate Schoof

 

 

 

Henkersphantasie

Der vorwärts, immer noch die »Zeitung der deutschen Sozialdemokratie«, fragt in jeder Ausgabe unter der Überschrift »Wer war’s« nach einer historischen Persönlichkeit. In der neuesten Ausgabe 4/2019 wird eine Person gesucht, die 1924 mit 34 Jahren für die SPD erstmals in den Landtag des Volksstaats Hessen gewählt wurde. Im November 1931 veröffentlichte der Gesuchte als hessischer Innenminister die »Boxheimer Dokumente«, in denen die Pläne für einen Staatsstreich der Nationalsozialisten niedergelegt waren. Historisch bewanderten Leserinnen und Lesern ist es jetzt möglicherweise klar: Es geht um Wilhelm Leuschner. Die Veröffentlichung der Papiere machte ihn zu einem der meistgehassten Gegner der Nationalsozialisten. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 wurde Leuschner wegen seiner Verbindungen zu Widerstandskreisen zum Tode verurteilt und am 29. September 1944 im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee hingerichtet.

 

Die veröffentlichten Pläne schlugen im In- und Ausland große Wellen. Auch Carl von Ossietzky bezog Stellung. Auf ihren Verfasser anspielend, bezeichnete er die Dokumente als »Henkersphantasie eines hessischen Gerichtsassessors«, mit der »die Straße der Hooligan- und Halsabschneiderarmee der SA-Kommandeure ausgeliefert [würde], die jede Opposition als ›Kommune‹ blutig unterdrücken« wolle (C. v. O.: »Der Weltbühnen-Prozeß«, in: Die Weltbühne, 1. Dezember 1931, S. 803-811).                            

K. N.

 

 

 

Walter Kaufmanns Lektüre

Daniela Dahns jüngstem Buch »Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute« ist größte Resonanz vorauszusagen. Die Arbeit hat Biss, ist zupackend, ist faktenreich und durchweg spannend. Man schlage eine beliebige Buchseite auf, stets wird man etwas Besonderem zustimmen wollen. Nicht zu Unrecht, so sagt man sich, fragt Daniela Dahn: »Wer wagt es heute Menschen wie Bruno Baum und Julián Grimau zu beleidigen?« Womit zwei ermordete Antifaschisten Erwähnung finden, nach denen in der DDR Straßen und Plätze benannt worden waren. (Was dann nach dem Mauerfall umgehend geändert wurde …, weg mit diesen Roten!)

 

Später im Buch zeigt Daniela Dahn, wie ein Jurist namens Thümmler, der es 1941 zum Gestapo-Chef in Chemnitz gebracht hatte, einen Anwalt beauftragt, im Chemnitzer Rathaus nachzufragen, »was denn aus seiner [im Krieg zusammengerafften, W. K.] Kunstsammlung geworden sei«. Anonym lässt er das erkunden, ein Unterton von »wir sind wieder da!« bleibt aber deutlich. Laut einer Spiegel-Umfrage im Jahr 1992, heißt es anderswo, äußerten sich Ostdeutsche weniger antisemitisch, rechtsradikal und ausländerfeindlich als Westdeutsche. »Erst in den letzten Jahren«, konstatiert Daniela Dahn, »nähern sich die Werte langsam an – die innere Einheit in ihrer unerwünschten Form.« Zum Vorwurf »verzwergten« Denkens von »indoktrinierten« DDRlern, erlaubt sich Daniela Dahn zu entgegnen: »Wie viel Gehirnwäsche habt ihr [Westbürger, W. K.] eigentlich über euch ergehen lassen, um bis heute die Mär zu glauben, die Amerikaner hätten euch nach dem Krieg  Freiheit und Demokratie gebracht?« Weiter im Buch ist zu lesen: »Wenn deutsche Hartz-IV-Empfänger heute Flaschen sammeln, dann nicht wegen der Rettung von Geflüchteten, sondern wegen der Rettung von Banken.« Und umseitig erfährt der Leser, dass die »Bekämpfung der Fluchtursachen … zweifellos die beste Lösung« sei – schon seit Jahrzehnten aber würde das vergeblich verlangt. »Warum sollte es gerade jetzt gelingen?« Und auf der folgenden Seite wird festgestellt: »Die Ignoranz von heute ist unser Notstand von morgen.« Genug der Zitate? Jawohl, genug! Nur dieses noch: »Der Kapitalismus hat nicht gesiegt, er ist nur übrig geblieben.«

 

Und wenn gegen Ende des Buches Daniela Dahn jedwede Rüstung ablehnt, sie Entrüstung über Gewalt fordert, ist sie zum Kern der Misere vorgedrungen. »Auf einem eurer Plakate«, ruft sie den Scharen junger Leute von Fridays for Future zu, »habt ihr die Worte CLIMATE CHANGE durchgestrichen und darüber SYSTEM CHANGE geschrieben.« Und damit, liebe Leser, klingt das so herrlich streitbare Buch aus …                         

W. K.

 

Daniela Dahn: »Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute. Die Einheit – eine Abrechnung, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 287 Seiten, 14 €. Buchpremiere: 1. Oktober, 20 Uhr, Pfefferberg Theater, Schönhauser Allee 176, Berlin: Daniela Dahn im Gespräch mit Peter Brandt. Weitere Veranstaltungen siehe: https://www.danieladahn.de/termine/.

 

 

 

»Das Ende der Wende«

So hat Michael Mäde sein 2018 in der Edition Schwarzdruck erschienenes Gedichtbändchen genannt. In 43 Gedichten setzt er sich wortgewaltig und präzise mit Problemen der Gegenwart auseinander. Angelehnt an einen Gedanken von Peter Hacks prophezeit er unter dem Titel »Das Jahr 25 II« zum Beispiel in freien Rhythmen: »Kein Licht, nirgends./ Wir durchfahren den Tunnel./ Die Katastrophe ist im Gange./ Der Status quo wird Religion./ Veränderung bringt Chaos./ Michel krallt sich an Besitz./ Vergräbt die Zukunft/ Unter Phrasen./ Wer zuckt verliert./ Wir durchfahren den Tunnel./ Im Kreisverkehr.«

 

Jakob Michael Reinhold Lenz, einer der bedeutenden Dichter des Sturm und Drang, der von Goethe gemieden wurde, ist ein verehrtes Vorbild für Mäde. Zu spüren ist das in seinem Gedicht »Flucht ist Fluch«: »Kein Entrinnen,/ aus dem Schlamm, kein Weg,/ der noch gen Straßburg führt./ Festgehalten/ in deutscher Provinz./ … Weimarer Hintertreppentanz,/ Jenaer Ignoranz./ Trostfreier Zuspruch/ subaltern dargereicht, abgewandten Blicks./ … « In seinen Anmerkungen am Ende des Bändchens findet man Informationen, die solches Verlorensein nachfühlbarer machen. »Ein Morgen in Bautzen«, ein anderes Gedicht, klagt mit wenigen Worten den Terror der Neonazis an: »Trotzig zeigt der Dachstuhl/ seine Narben. Ausgebrannt/ steht die Heimstatt/ für Menschen in Not.« Zugleich findet Mäde in seinem Gedicht »Fieber« sensible Worte für »Nataly«: »Wie ich dich gesucht habe,/ Hetzend über die Hügel/ der Kindheit./ … Und im Grauen/ des Morgens, höre ich, Liebste,/ deinen Atem, regelmäßig/ und ahne/ mein Glück.« Mit solcher Verskunst setzt Michael Mäde Maßstäbe, die – nicht nur beim Schreiben von Gedichten – verlorengegangen sind.

 

Die Ausstellung »Point of No Return. Wende und Umbruch in der ostdeutschen Kunst« im Leipziger Museum der bildenden Künste ist ein Beispiel dafür. Im Lift begrüßen an der Decke hängende große weiße Flächen mit schwarzen Klecksen den erschrockenen Besucher. Auch Frank Herrmanns sechsteilige Schwarzweißfotografie »ER-Schöpfung« verbreitet nur Ratlosigkeit und Verunsicherung beim Betrachter. Ein in ein schwarzes Tuch gehüllter Mensch liegt gekrümmt auf der Erde, ist irgendeinem Schicksal ausgeliefert; Konkretes wird vermieden. In großen, hallenartigen Sälen zeigt die Ausstellung 300 Werke von 106 Künstlern, darunter mehr als 40, die dem Kenner aus großen Kunstausstellungen in Dresden bekannt sind. Wir begegnen Arbeiten von Bernhard und Johannes Heisig, Willi Sitte, Hubertus Giebe, Dieter Bock, Angela Hampel und anderen. Warum aber fehlen zahlreiche aussagekräftige Werke zum Thema Wende zum Beispiel von Heidrun Hegewald, Heinrich Apel, Rolf Kuhrt, Dieter Gantz, Paul Michaelis? Die Ausstellungsräume bieten viel Platz. Warum muss sich der Besucher den Hals verrenken, um Sighard Gilles Gemälde »Die Fähre« – das über einer hohen Tür hängt – zu sehen? Nur wenige Werke ringen Hochachtung ab. Zu ihnen gehört die Serie »Übergangsgesellschaft« von Doris Ziegler; in ihrem Bild »Musikanten« stehen die Akteure in einem trostlosen, kleinen, kahlen Raum mit wenig Licht. Ihre »Passage«-Bilder sind von großer Aussagekraft. Sie widerspiegeln überzeugend Pessimismus, Schicksalsergebenheit, Existenzangst und Perspektivlosigkeit – wie sie in der Wendezeit viele Menschen erfasste. Doch bei zahlreichen anderen Werken ist der Betrachter mit seiner Weisheit am Ende, zum Beispiel bei Hans-Joachim Schulzes »o. T.«. Wenn die Darstellung psychischer Befindlichkeiten zum Verfall künstlerischer Formen führt, herrscht Maßstablosigkeit. Im Grußwort ist zu lesen: »Künstler haben zu jeder Zeit Grenzen erweitert und überschritten.« Das ist richtig. Wenn aber der Adressat damit ausgeschlossen wird, kann Kunst keine Botschaft mehr vermitteln und macht sich überflüssig. Dass man ostdeutsche Kunst auch anders präsentieren kann, das zeigten Ausstellungen in den Museen von Halle, Schwerin und Rostock. In Rostock gibt es eine facettenreiche Erinnerung an den Palast der Republik, an ein Bauwerk, das man verbrecherisch vernichtet hat, eine nicht wiedergutzumachende Untat.

 

Trauer und Enttäuschung bleiben. Michael Mäde setzt mit seinen Gedichten seine Sorge um den Menschen und glasklares Denken dagegen: »Es eilt die Geschichte,/ zu wiederholen sich/ als Farce./ Dies schließt/ – da sei gewarnt –/ echte Tode nicht aus./ Die Deutschen kauen/ – mal wieder –/ auf den Lehren/ ihrer Geschichte herum,/ enttäuscht/ über den Nährwert der Ration.«        

 

Maria Michel

 

 

Michael Mäde: »Das Ende der Wende. Texte aus der Zwischenzeit«, Edition Schwarzdruck, 68 Seiten, 11 €. »Point of No Return. Wende und Umbruch in der ostdeutschen Kunst«, Museum der bildenden Künste Leipzig, noch geöffnet bis zum 3. November 2019

 

 

BlackRock – unheimliche Macht

Am Dienstag, dem 17. September, wurde die von ARTE/ZDF produzierte Dokumentation über den Konzern BlackRock zur besten Sendezeit auf ARTE ausgestrahlt. Der unbedingt sehenswerte Film ist noch in der ARTE-Mediathek abzurufen und wird am 17. Oktober um 20.15 Uhr in ZDF/Info wiederholt.

 

Aus der Ankündigung: »Keiner verfügt über mehr Geld als der amerikanische Finanzinvestor BlackRock. Über sechs Billionen Dollar verwaltet der Konzern. Wer über so viel Geld verfügt, hat großen Einfluss. […] Längst gibt es Experten, die in der unfassbaren Größe von BlackRock eine Bedrohung für den freien Wettbewerb und die Stabilität der Finanzmärkte sehen. […] Derzeit ist BlackRock Großaktionär bei Apple, Microsoft, Facebook, McDonald's, Siemens, BASF, Bayer und vielen, vielen mehr. BlackRocks Einfluss geht jedoch weit über Unternehmensbeteiligungen hinaus. Der Investor berät Notenbanken und Finanzminister, hat Zugang zu Staatschefs. Kein anderer Konzern und keine Behörde der Welt besitzt heute einen so umfassenden Einblick in die globale Finanzwelt wie BlackRock.«    

R. D.

 

 

 

Zuschrift an die Lokalpresse

Man kann sich nur darüber freuen, dass sich nach langer Bedenkzeit und endlosen Streitereien der Politiker um Verfahrensfragen vor allem junge Menschen für den Klimaschutz engagieren. Dass dabei – gewissermaßen als wunderbares Nebenprodukt – phantastische sportliche Leistungen erzielt werden, sollte auch gewürdigt werden. Am 4. September erfuhr ich im Berliner Kurier auf Seite 6 (Spalte »Ehre, wem Ehre gebührt!«), dass die 24-jährige Camilla Kranzusch »am Freitag von Berlin nach Marokko laufen wird«, um »öffentlich gegen die Klimakrise anzukämpfen«. Das sind immerhin 6500 Kilometer! Die wollen erst mal antrainiert sein! Und hoffentlich hat sie nach einem solchen Gewaltmarsch noch Kraft zum Kämpfen! Da frage ich mich natürlich, ob der Autor des Beitrages schon mal einen Abschnitt der Strecke probegelaufen ist! – Manfred Marathon (68), Seniorensportler, 12487 Berlin, Springbornstraße 

 

Wolfgang Helfritsch