Sehr geehrter Herr Professor Friedrich Thießen, mit Ihrer unanfechtbaren Studie zur Höhe der sozialen Mindestsicherung haben Sie den Nerv der Zeit getroffen – und das Schmerzzentrum aller linken Spinner und Gutmenschen, die noch immer an Hirngespinste wie »Menschenwürde« oder ein »Recht auf Leben« glauben. Manche Ihrer Kritiker erdreisten sich, Ihnen vorzuwerfen, wer wie Sie auf Lebenszeit und bei sehr guter Bezahlung im Elfenbeinturm der Wissenschaft residieren dürfe, der solle seinen von der Obrigkeit deutlich weniger gesegneten Mitmenschen nicht auf die Köpfe pinkeln. Die so daherreden, begreifen nicht, was ein Professor zu leisten hat. Unser großer Staat mit seiner großkoalitionären Regierung bezahlt seine Professoren auch dafür, daß sie seine Grundordnung aufrechterhalten und ihm im Bedarfsfall als willige Helfer mit den Mitteln ihrer Wissenschaften zur Seite stehen. Wollen Union und SPD die – wahrhaft kolossalen – Hartz-IV-Zuwendungen so kürzen, daß endlich noch viel mehr Menschen in den schönen neuen Niedriglohnsektor abwandern und finanziell besser gestellten Persönlichkeiten wie beispielsweise Ihnen, Herr Professor, als preiswerte Putzfrau oder kostengünstiger Koch zur Verfügung stehen, dann können sie sich auf einen Friedrich Thießen und seinen Taschenrechner fraglos verlassen. Der Vorwurf, daß ein deutscher Professor sich für solche Dinge nicht hergeben solle, ist lächerlich. Was deutsche Wissenschaftler zu leisten imstande sind, sollte die Welt seit dem Wirken Josef Mengeles endgültig begriffen haben.
Sie haben der Republik »aus Unbehagen über das als intransparent empfundene Verfahren der Berechnung« nachgewiesen, daß ein Erwachsener zur physischen Existenzsicherung und Teilhabe am kulturellen Leben neben Miet- und Heizkosten lediglich 132 Euro monatlich benötigt. Hierfür gilt Ihnen der Dank des Vaterlandes. Besonders erfreulich ist, daß Sie die Geldmittel für Alkohol und Tabakprodukte auf null Euro zusammengestrichen haben. Wer harte körperliche Arbeit im Niedriglohnsektor verrichten soll, muß körperlich gut in Schuß sein. Daß Sie, Herr Professor, einen Euro pro Monat für die Kultur veranschlagen, ist auch wohlerwogen. Wer dieses Geld spart, kann damit einmal jährlich zum Friseur gehen und sich eine Glatze scheren lassen. Mehr Kultur braucht es hierzulande nicht.
Wichtig finde ich Ihre Forderung, die Arbeitslosen nicht so sehr mit Geld abzuspeisen, sondern ihnen das zu geben, »was vielen sehr wichtig ist: Arbeit und Anerkennung«. Arbeit, nur Arbeit, macht frei von dem Verdacht, daß man sich auf Kosten seiner Mitmenschen ein faules Leben macht. Anerkennung könnte Vater Staat nach guter alter Sitte durch Vergabe schmucker Uniformen zeigen: eine braune für Hundekotentferner, eine grüne für Stadtparkmäher oder eine weiße für Altenbetreuer.
Wenn ich mir ein Wort der Kritik an Ihrem guten Werk erlauben darf, dann dies: Der Zeitpunkt Ihrer Veröffentlichung war nicht der günstigste. Wie schrieb doch der Kommentator der Bild-Zeitung: »Kein verantwortlicher Politiker in Deutschland will derzeit die Hartz-IV-Sätze absenken.« Ihnen und mir, Herr Professor, ist selbstverständlich klar, welche Bedeutung das kleine Wort »derzeit« in diesem Satz hat. Ein Jahr vor der Bundestagswahl könnte eine solche – vernünftige! – Entscheidung vielleicht doch ein paar Stimmkreuze kosten. Sie hätten besser gewartet, bis die schwarz-gelbe Bundesregierung ab Herbst 2009 die Republik zum neoliberalen Utopia umbaut. Aber wahrscheinlich haben Sie klug bedacht, daß die Bundesbürger allmählich schon an diesen Gedanken herangeführt und gewöhnt werden müssen.
Der eigentliche Grund für mein Schreiben ist, daß auch ich endlich auf der Gewinnerseite des Lebens stehen Wirtschaftswissenschaftler werden will wie Sie, werter Herr Professor. Als jemand, der im Kopfrechnen schwach ist und alles wortwörtlich nachbeten kann, was die FAZ und Guido Westerwelle zu Thema Wirtschaft offenbaren, bringe ich ideale Voraussetzungen für Ihre Branche mit. Darüber hinaus habe ich eine schlagende Idee, wie Sie die Geldzahlungen an Hartz-IV-Ausnutzer komplett zusammenstreichen können! Als Gegenleistung erhoffe ich mir von Ihnen lediglich, daß Sie als Wirtschaftskoryphäe im Wissenschaftsbetrieb ein gutes Wort für mich einlegen, damit ich dort genauso Karriere machen kann wie Sie.
Meine Idee ist diese: Wir schicken die Hartz-IVer einfach in den Wald. Dort können sie sich im Sommer von Beeren ernähren und den Tau von den Gräsern lecken. Im Winter trinken sie Schnee und essen Wurzeln. Als Kleidung genügen blaue Plastiksäcke. Kommunizieren können sie, indem sie auf Baumstämme trommeln. Als Unterkunft dienen Tropfsteinhöhlen oder Erdlöcher, die mit Kunststoffplanen abgedeckt werden. Die Leistung der Leistungsbezieher besteht darin, daß sie überleben. Ihre Anerkennung erhalten sie von Touristen und Schulklassen, die sie mit sanftem Grusel im Wald bei ihren Tagesgeschäften beobachten. Verdiente nicht schon der Zoobesitzer Hagenbeck vor hundert Jahren ein Vermögen mit Völkerschauen, in denen er Inuit, Äthiopier oder Indianer ausstellte? Unser Staat kann die Hartz-IV-Horden einzäunen und Eintrittsgelder verlangen. So wird aus der Nullausgabe für Langzeitarbeitslose im Handumdrehen eine sprudelnde Einnahmequelle!
Ich hoffe, Herr Professor, Sie mit meinem Einfallsreichtum und meiner Gewissenlosigkeit beeindruckt zu haben, und freue mich jetzt schon mit Ihnen über den Erfolg Ihrer nächsten Studie, die unter dem Titel »Zurück zur Natur – soziale Mindestsicherung durch nordeuropäische Wälder und Forste« im Spätherbst nächsten Jahres den unverantwortlichen Wildwuchs bundesdeutscher Geldverschwendung mit Stumpf und Stiel ausmerzen wird.