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Titel1908

Die Fabrik der Deutschen  (Susanna Böhme-Kuby)

Die soziale Realität Italiens findet seit den Nachkriegsjahren in seiner reichen Filmproduktion lebendigen Ausdruck. Das gilt bis heute. Ich erwähnte schon (s. Ossietzky 13/08) die beiden im Mai 2008, zeitgleich mit dem Antritt der dritten Regierung Berlusconi, angelaufenen Filme »Gomorra« (seit September auch in deutschen Kinos) und »Il Divo«, die die bestehenden Machtverhältnisse schonungslos offenlegen. Die soeben beendeten 65. Filmfestspiele in Venedig widmeten einen Tag dem Protest gegen die so genannten Weißen Toten (morti bianche) – ein Euphemismus für die alljährlich etwa 1400 Todesopfer von Arbeitsunfällen, die in Presse oder Tagesschau kaum Erwähnung finden.

Doch der in der Nacht zum 6. Dezember 2007 entfachte Großbrand im Stahlwerk der ThyssenKrupp AG in Turin, bei dem sieben Arbeiter an der Linie 5 wie Fackeln abbrannten, erreichte die Öffentlichkeit ob seiner Spektakularität und seines Kontextes. Spontane Streiks und Protestdemonstrationen fanden danach nicht nur in Turin statt. Haben deutsche Zeitungen über das »Unglück«, das von einigen Betroffenen als »Mord« bezeichnet wird, berichtet? Nach ihrer Erstaufführung im August auf dem Festival von Locarno wurden die beiden Dokumentarfilme »Die Fabrik der Deutschen« und »ThyssenKrupp Blues« nun auch in Venedig gezeigt und sorgten für einige Polemik, sogar seitens der Gewerkschaften, die sich gegen den Vorwurf der Arbeiter verwahrten, zu lange stillgehalten zu haben.

Es handelt sich nämlich nicht um einen jener zahllosen »Unfälle«, die sich häufig in illegalen Kleinbetrieben oder auf Baustellen ereignen, wo Sicherheitsmaßnahmen meist fehlen, sondern er geschah in einem der ältesten und produktivsten Stahlwerke des Landes, einem Großbetrieb, der von dem berüchtigten deutschen Konzern vor Jahren übernommen worden war und bis Mitte 2007 noch 400 Metaller beschäftigte. Beide Filme lassen überwiegend die Betroffenen zur Sprache kommen. Der Film »ThyssenKrupp Blues« (Regie: Monica Repetto und Pietro Balla) war schon im Sommer 2007 begonnen worden – eine Anklage gegen die Arbeitsbedingungen, sechs Monate vor dem Desaster erhoben. Es ist die Geschichte von Carlo Marrapodi (30), der nach sechsjähriger Betriebszugehörigkeit zusammen mit 99 Kollegen von der ThyssenKrupp AG am 11. Juni per Telegramm seine sofortige Suspendierung erhält: Das Management will die ertragreiche Turiner Fabrik schließen und nur das modernere Werk in Terni weiterführen. Der Sozialplan sieht 13 Wochen Arbeitslosenunterstützung vor, Carlo kehrt für den Sommer in sein desolates kalabresisches Dorf Pazzano zurück, allein, vereinzelt; die meisten Einwohner sind schon früher in den industrialisierten Norden abgewandert. Ab Herbst 2007, noch während der begonnenen Abbrucharbeiten, soll aber unbedingt weiterproduziert werden wie vorher, in drei Schichten, rund um die Uhr. Die verbliebenen 300 Arbeiter werden zu Überstunden angehalten (bis zu 12, ja 16 Stunden hintereinander), nur so können sie ihren Normallohn von 800 bis 1000 Euro aufbessern. Die meisten sind Alleinverdiener, haben Kinder. Und Weihnachten steht vor der Tür.

»La fabbrica dei tedeschi« von Mimmo Calopresti beginnt hingegen mit der Explosion und dem Großfeuer (die Feuerlöscher und Spritzen waren leer und unbrauchbar) und rekonstruiert die Vorgeschichte des Unglücks, das seit Jahren absehbar und befürchtet war. Calopresti zeigt Großaufnahmen der überlebenden Arbeiter und der hinterbliebenen Frauen, Mütter und Kinder. Ein facettenreiches Bild einer Gemeinschaft von Menschen entsteht, die durch ihre gemeinsame Arbeit oft seit Jahren eng miteinander verbunden waren; ihre Aussagen sind von erstaunlich unpathetischer Eindrücklichkeit, Ausdruck einer Würde, die noch Spuren von Klassenbewußtsein verrät. Um so skandalöser ist das Bild der Arbeitsbedingungen, das sich dem Zuschauer eröffnet. Die Arbeiter hatten lange vorher die mangelnde Sicherheit der Anlagen gemeldet. Bereits 2006 hatten die zuständigen Turiner Aufsichtsbehörden dem Management entsprechende Auflagen gemacht, die immer wieder hinausgezögert wurden – man war ja schließlich in Italien. Deshalb wird sich das Managment von ThyssenKrupp, trotz seiner Versuche, den Hinterbliebenen mit Geld den Mund zu stopfen, in Kürze in Turin der Anklage wegen vorsätzlicher Tötung stellen müssen. Die bisher an den Tag gelegte Arroganz der Manager (unter anderem ihre Abwesenheit beim offiziellen Trauerakt der Stadt Turin) läßt nicht auf Einsicht hoffen.