Das Maxim Gorki Theater, in das ich oft gehe, bringt viel – zu viel, um subtile Arbeiten liefern zu können. Daher ist auch nicht alles subtil zu beurteilen. Vieles aus dem großen Repertoire des eher kleinen Hauses kann man vergessen, so die mal wieder ganz revolutionär sein wollende, ganz revoluzzerhafte »Romeo und Julia«-Inszenierung oder »Ödipus auf Cuba«, ein harmloses Stück des Hausherrn Armin Petras nach Max Frisch oder »Tintenherz«, das von Robert Koall auf die Bühne gebrachte Büchlein der Hollywood-Schnellklassikerin Cornelia Funke.
Stefan Bachmann und Carmen Wolfram nehmen es auf sich, Thomas Manns »Zauberberg« zu dramatisieren. Wozu? Man weiß doch von vorn herein, daß das nicht geht, daß es überflüssig ist. Und tut es doch. Die Bühne ist sicher gefräßig, aber muß man jeden Hunger bedienen? Es ist ein Hunger aus Überfluß. Wozu muß man, wo Reichtum ist, Armut produzieren? Wozu unsere wunderbaren Gefährten wie Hans Castorp, gar die intellektuellen Riesen und Ritter trauriger Gestalten wie Naphtha und Settembrini zu Zwergen reduzieren und lächerlich machen? Das war auch nicht gut gespielt. Wie auch? Schon die Fernseh-Verfilmung floppte. Mußte man diesen Mißerfolg nachmachen?
Und dann der »Rummelplatz« von Werner Bräunig, hastig bearbeitet und vorgeführt von Armin Petras. Fast alles gilt, was ich eben zum »Zauberberg« gesagt habe: Ein reiches Romanfragment wurde zum armen Theater verwandelt. Warum? Weil der Text in der DDR zeitweise verboten war? Ein heute kaum zureichender Grund. Tiefer scheint mir der Mangel an Dramatikern, an heutigen Dramen. Da gibt es wenig, trotz der vielen gesellschaftlichen Probleme. Die Konflikte haben sich offenbar noch nicht ausreichend herausgebildet. Das dauert stets seine Zeit. Unsere Nachfahren werden dann im Theater mehr über unsere Konflikte erfahren als wir, die wir oft mit Notdürftigem vorliebnehmen müssen. Und mit Roman-Bearbeitungen, unzureichenden. Unsere Theaterleiter, die Zeittheater machen wollen, haben Not – das sei ihnen zugestanden. Verschweigen kann ich es nicht.
Ich besteige die Linie 12 am Kupfergraben und fahre gen Norden nach Hause, unzufrieden und verständnisvoll. Ach, die Lage des Theaters, dieser altmodischen Institution, einst in ihrem Ursprung Stätte demokratischer Diskussion und daher noch heute unentbehrlich – weil öffentlich (was Presse auch kann) und diskursiv (was Presse kaum kann).
Ihren Ursprung hatte diese Diskussion in der Antike, in der Polis, auf der Agora und auf der Scena vor dem Theatron. Darauf bezog sich in diesem Sommer die Volksbühne: Vor ihrem derzeit nicht nutzbaren Haus am Rosa-Luxemburg-Platz führte das Ensemble eine Serie von Stücken der antiken Großmeister mit allerlei literarischen Zusätzen auf. Hinter einer hölzernen Großwand zum lärmigen Platz war ein Amphitheater aufgebaut. Auf einer Sandfläche vor dem Tor mit den wuchtigen Reliefsäulen spielten die Mimen Antike – im Einzelnen recht bescheiden, aber als Ganzes war es eine große Idee, wie man sie heute von keinem anderen Intendanten außer Frank Castorf erwarten kann. Frohgemut ging ich über die Agora, wo nach griechischem Recht parrhesia galt und hier wohl auch gelten soll, also die freie Rede, mithin das Recht, den Herrschenden gegenüber die Wahrheit zu sagen.
Im Anfang war »Prometheus« von Aischylos in der Heiner-Müller-Fassung. Regisseur war Dimiter Gotscheff, der seines hinzutat, nicht eben das Beste, etwa zeitgenössische Manierismen wie den vom »Nervenzusammenbruch des Zeus«. Max Hopp war Darsteller der Titelfigur, wohl eine der schwersten Rollen der Weltdramatik. Es war klug, sich auf die Sprache zu konzentrieren, auf Aktionismus zu verzichten. Immerhin stehen sich Rechtsordnungen gegenüber: Zeus und seine Götter haben die Titanen besiegt; die Polis, der neuere Staat, hat die archaischen Stammesordnungen bezwungen. Prometheus, einst Verbündeter des Zeus, inzwischen Kulturbringer, lehnt sich gegen neuen Götter-Absolutismus auf, wird mit der berühmten Fesselung am kaukasischen Felsen bestraft, bleibt aber im Widerstand. In solchem Streit kämpft man mit geistigen Waffen, das heißt mit Worten, freilich muß auf der Scena Sprache in Maßen auch Körpersprache sein. Aber mußte es so laut sein? Warum wurde so viel gebrüllt?
Werner Schroeter, dem eher Film- als Theater-Lorbeeren anhängen, begab sich nun auf die Spuren des Sophokles und vereinte dessen Dramen »Antigone« und »Elektra«, der »Antigone« in der Sprache Hölderlins, der »Elektra« in der Hofmannsthals. Eine Fassung für den Hausgebrauch – Weiterverwendung nicht empfohlen! Doch an diesem Abend, in dieser Umgebung überzeugte das Konzept. Vier gute Darstellerinnen trugen durch ihre spielerische Kraft dazu bei: Anne Ratte-Polle als Antigone, Dörte Lyssewski als Elektra, Almut Zilcher als Klytämnestra und Pascale Schiller, die in den Rollen von Ismene und Chrysothemis manchmal Mühe hatte, den richtigen Ton finden und zu halten.
Der Abend hatte den Titel: »Alles ist tot – Formen der Einsamkeit«. Irgendwo las ich, daß es sich hier mehr »um seelische Vorgänge« denn um historische Ereignisse handele. Abgesehen davon, daß Mythen-Dramen keine historischen Ereignisse wiedergeben, sondern auf Erzählungen aus vor- oder frühgeschichtlichlicher Zeit zurückgehen, abgesehen davon, daß Seelisches auch in historischen Personen vorgeht, waren die Bühnenvorgänge besser als der Dramaturgen-Text: Auch hier geht es beide Male um Widerstand gegen Unrecht, Durchsetzung neuen Rechts und humaner Ordnung, und da spielen Seelen mit, tragend sogar.
»Medea« behielt Castorf sich selber vor, in einer Collage mit Alexander Kluges Bericht »Heidegger auf der Krim«. Vorrangig ging es – wie bei diesem Stoff nicht anders möglich – um die Kindertötung durch eine verzweifelte Frau und Mutter (Jeanette Spassova und als deren Schattenfiguren: Margarita Breitkreiz und Irina Potapenko), darüber hinaus um Angriffs-, Raub- und Vernichtungskriege. Das Programmheft ist voll von Texten über imperialistische Kriege, besonders den Zweiten Weltkrieg neben einem Tacitus- und einem Karl-Marx-Text. Ich kann mir nicht helfen: Mit all dem Bemühen um historische und sozialpsychologische Deutungen war dieser dramatische Text überfordert. Das konnten die Schauspieler bei allem Einsatz nicht über die Rampe bringen.
Imperialistische Prozesse zu zeigen, gelang schon eher mit Brechts unvollendeten Roman »Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar« (1949) in einer szenischen Fassung von Lothar Trolle. Arrangiert hatte das die Schauspielerin Silvia Rieger, die auch die Masse des Textes sprach, flankiert von Boris Scarano und Michael Klobe. Außerdem spielte ein kleiner Junge im aufgeschütteten Sand der Scena. Was der sollte, blieb unklar. Das Arrangement war hilflos, die Darsteller liefen beziehungslos hin und her oder standen herum. Gewicht hatte einzig und allein der Text. Diesen zu bewältigen und verständlich herüberzubringen, gelang Rieger vorzüglich. Brechts Sprache kam mit Sinn und Klang. Alles Übrige war überflüssig. Eine szenische Lesung hätte genügt. Brecht, der über 50 Stücke geschrieben hat, wußte, warum dies ein Roman sein sollte. Wäre es ihm um Caesars Staatsstreiche und politische Manipulationen gegangen, hätte er – wie Shakespeare oder Shaw – ein Stück geschrieben. Nein, er wollte Prozesse deutlich machen, Prozesse des Kapitals und deren Krisen, Finanzkrisen. Dazu eignete sich das Genre Roman besser. Die Bühnenadaption war nicht hilfreich, eher verdunkelnd. Schade.
Einen absoluten Flop erlebte die Volksbühne mit Aristophanes’, des Erfinders allen Gelächters, Komödie »Die Vögel«, hier unter dem Titel »Vögel ohne Grenzen« aufgeführt. Daß das Ensemble dieses herrliche Stück über die Gefahr von Utopien, die Unmöglichkeit, vollkommene Zustände herzustellen, gar Glück als höchsten Zustand zu empfinden, so töricht vergeigte, ist schwer zu verstehen. Goethe liebte und bearbeitete das Stück, Peter Hacks ebenso, er hatte sogar an eine Oper gedacht, und nun kam Jéròme Savary und bot eine derart läppische Show an. Hier stimmte nichts, und so erfuhr man auch nicht, wohin die Satire zielte. Das Programmheft zeigte viele Nackte und Halbnackte, doch davon wurde man auch nicht klüger. Und mir war auch nicht »sauwohl«, wie sich einst Hegel bei Aristophanes fühlte. Selbst Adorno (ebenfalls im Programmheft zitiert) konnte nicht helfen. Schauspieler nenne ich nicht, sie taten mir eher leid, Spiellust, die sich hätte übertragen können, war ihnen nicht anzumerken.
Dabei hatte sich die Theaterleitung viel ausgedacht. Edith Clever war eingeladen worden, unter dem Titel »Mnemosyne« Hölderlins späte Hymnen vorzutragen. Sie war einst die Klytaimnestra in Peter Steins unvergessenen und unvergeßlichen Antike-Projekten der 1970er Jahre. Erneut hielt Stein seinen berühmten Vortrag, mit dem er damals seine Regie-Konzeption erläutert hatte. In der langen Vorbereitungsperiode gab es noch Themen-Abende wie »Hunde – Reichtum ist die Kotze des Glücks« und eine Auseinandersetzung mit den Kynikern, also der hündischen Philosophie.
Gregor Gysi redete über Rhetorik, die einst auf der Agora eine wichtige Kunst war – wer im Bundestag versteht sich darauf so wie Gysi!
Zu loben ist Bert Neumann, der auf diesem Großstadtplatz vor dem Theatergebäude eine gute Arbeits- beziehungsweise Spielfläche geschaffen hatte und den Zuschauern gute Sicht gab. Sogar an Regencapes und Sitzpolster hatte man gedacht. Sir Henry war wie meist ein guter musikalischer Partner – Musik war weniger Illustration als dramaturgischer Kommentar, auf ihre Weise, gemischt aus vielen tonalen Bereichen.
Nun ist das neue Antike-Projekt abgeschlossen. Was hat es gebracht? Es hat gezeigt, daß da ein kostbares Erbe zu pflegen und lebendig zu halten ist. Und wie überaus schwer diese Aufgabe ist.