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Titel1910

Die Sorge um die künftigen Generationen  (Ralph Hartmann)

Die Neoliberalen, die es vorziehen, Christliche-, Frei- oder Sozialdemokraten genannt zu werden, peinigt die Sorge um die »kommenden Generationen«. Schon in ihrer Neujahrsansprache 2008/2009 hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel mehrfach den »Blick auf die nächste Generation« gerichtet und namens der schwarz-rosa Regierung versichert: »Wir handeln schnell und denken dabei an die kommenden Generationen. Das ist der Geist, mit dem Deutschland das Jahr 2009 meistern wird.«

Der Geist lebt weiter, und die Sorge bleibt. Allerdings läßt die Sorge der Neoliberalen entscheidende Menschheitsprobleme außer Acht. Sie gilt vor allem dem wachsenden Schuldenberg von 1,8 Billionen Euro, der irgendwann von denen abgebaut werden soll, die ihn nicht aufgeschüttet haben. Der Spezialist für Sünden, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, nannte ihn eine »Versündigung an den späteren Generationen«. Wahrlich ein Grund, endlich zu sparen – und sei es zu Lasten der Armen und Ärmsten.

Auch die Auswirkungen der demographischen Entwicklung auf die Sicherung der Renten quälen die regierenden Neoliberalen. Sie können dem Steuerzahler, vor allem dem künftigen, teuer zu stehen kommen. Wer weiß das besser als Karl Heinz Däke, Präsident des Steuerzahlerbundes, der in möglichen Rentenerhöhungen »Fehler« sieht, »die für spätere Generationen sehr teuer werden«. Sicherheitshalber läßt er die rasante Entwicklung der Arbeitsproduktivität außer Acht ebenso wie die schlichte Tatsache, daß die sinkenden Realrenten der Alten zum niedrigen Ausgangspunkt für die Berechnung der Altersbezüge der jetzt noch Jungen werden.

Staatsverschuldung und Rentennot sind aber nicht die einzigen Probleme, die um die »kommenden Generationen« besorgt machen können. Da ist der verflixte Klimawandel, der immer wieder, so auch im vergangenen Sommer, seine Vorboten schickt. Wenn ihm nicht in letzter Minute entschlossen begegnet wird, dann droht schon in diesem Jahrhundert eine Erwärmung der Erdatmosphäre um bis zu vier Grad mit allen verheerenden Folgen für Mensch und Natur. Unsere Klimakanzlerin ist sich dessen bewußt, und deshalb kämpft sie unermüdlich für eine kräftige Verlängerung der Laufzeiten der klimafreundlichen Kernkraftwerke. Dabei weiß sie schon seit der Zeit, als sie noch Kanzler Kohls »Mädel« und seine Umweltministerin war, daß allein in den deutschen Atomreaktoren Jahr für Jahr enorme Mengen an tödlich strahlendem Brennelemente-Müll erzeugt werden, wovon bislang noch kein Kilo, kein Gramm sicher entsorgt ist. Er befindet sich in sogenannten Zwischenlagern in ungezählten Castor-Behältern, von denen jeder etwa so viel langandauernde Radioaktivität enthält, wie in Tschernobyl freigesetzt wurde. Aber so schlimm ist das nun auch wieder nicht, denn die radioaktive Strahlung wird schon in rund 200.000 Jahren, also nach rund 6.000 »kommenden Generationen«, ganz von allein aufhören, nicht mit einem Mal, sondern schön allmählich.

Spätestens hier drängt sich die Frage auf, um wen es denn eigentlich geht, wenn besorgt von den »kommenden Generationen« die Rede ist, um unsere Kinder, Enkel und Urenkel oder um deren Nachkommen in späteren Jahrhunderten? Der Mißbrauch der Kernenergie jedenfalls bedroht die jetzigen und die kommenden Erdbewohner. Nirgendwo wird das deutlicher als bei den Kernwaffen. Nach ihrem barbarischen Einsatz in Hiroshima und Nagasaki wurden in den zurückliegenden Jahrzehnten 2.058 Atomwaffentests, darunter 528 oberirdische, durchgeführt, deren Folgen für den gesamten Globus nicht annähernd bekannt sind. Noch immer lagern in den Arsenalen der USA und Rußlands sowie der anderen Atomwaffen besitzenden Staaten mehr als 25.000 Atombomben, mit denen die Erde zigfach verbrannt werden kann. Und was machen unsere um die »kommenden Generationen« Besorgten? Sie raffen sich nicht einmal dazu auf, endlich energisch dafür einzutreten, daß die USA die auf dem Fliegerhorst Büchel (Eifel) lagernden Atomwaffen endlich vom deutschen Boden abziehen.

Die Kernwaffen besitzenden und die nach ihrem Besitz strebenden Staaten denken trotz anderslautender Beteuerungen gar nicht daran, auf diese Massenvernichtungsmittel zu verzichten. Sind diese doch in den Augen ihrer Regierenden auch ein unverzichtbares militärisches Instrument in den zu erwartenden globalen Auseinandersetzungen um die immer knapper werdenden Ressourcen an Nahrungsmitteln, Wasser und Rohstoffen. Wo bleibt hier die Sorge um die »kommenden Generationen«, die mit Blick auf die Staatsverschuldung und Rentenentwicklung so lautstark bekundet wird (immer in der Absicht, das brave Volk einzuschüchtern, damit es stillhält, wenn soziale Rechte eingeschränkt, Renten gekürzt, immer neue »Sparprogramme« beschlossen werden)?

Gegenwärtig leben rund 6,9 Milliarden Menschen auf der Erde, von denen mehr als eine Milliarde hungern. Nach Prognosen der Vereinten Nationen wird die Weltbevölkerung bis 2050 auf 9,2 Milliarden anwachsen. Keinesfalls muß das bedeuten, daß die Zahl der Hungernden im gleichen Verhältnis steigt. Doch die Gefahr ist real und groß, wenn das vorherrschende kapitalistische Wirtschaftssystem mit seinem extremen Nord-Süd-Gefälle, seinen zutiefst ungerechten Besitzverhältnissen, mit staatlichen Subventionen für die Ausplünderung der unterentwickelten Länder, mit dem Raubbau an der Natur fortbesteht. Verschärft wird die so schon bedrohliche Situation durch den längst nicht mehr zu leugnenden Klimawandel. Der Boden für die landwirtschaftliche Nutzung ist endlich, und die scheinbar unendlichen Weiten der Weltmeere bieten keinen Ersatz. Laut dem jüngsten Bericht der Welternährungsorganisation »ist das maximale Fischfangpotential erreicht«. Wird es weiter überschritten, brechen alle Bestände ein und die Meere werden mit immer ausgeklügelterer Technik leergefischt sein.

Selbst das Wasser, Grundlage jeglichen menschlichen Lebens, ist knapp geworden. In großen Teilen Afrikas und des Nahen Ostens besteht schon heute ein enormer Mangel an Wasser. UN-Gutachter sagen voraus, daß im Jahr 2025 über zweieinhalb Milliarden Menschen unter extremer Wasserarmut leiden werden. Begrenzt und endlich sind auch die Vorräte an Rohstoffen. Bei der zügellosen Ausbeutung ihrer Lagerstätten denkt niemand an die »kommenden Generationen«, obwohl die Reserven in absehbaren Zeiträumen erschöpft sein werden. Allein schon bei dem gegenwärtigen Verbrauch reichen sie nach Untersuchungen der Universität Jena bei Eisenerz noch 188 Jahre, bei Blei 31, bei Erdgas 67, bei Erdöl 39, bei Kupfer 57, bei Nickel 77, bei Wolfram 45 und bei Zink 27 Jahre. Auch wenn noch hier und da neue Lagerstätten entdeckt werden und die Recy-cling-Technik voranschreitet, irgendwann ist die Erde endgültig ausgeplündert. Doch wen kümmert das, wer ringt um Lösungen für die folgenden Jahrhunderte? Nur einige Spinner unter den Zukunftsforschern?

Die Herren der Industrie- und Finanzwirtschaft setzen die Jagd nach Maximalprofiten um jeden Preis fort, und die Regierenden erweisen sich als treue Diener des Kapitals, sie erheben das ressourcenverschlingende ökonomische Wachstum zur obersten Maxime. Sie beschwören wieder und wieder die Verantwortung für die »kommenden Generationen«, aber in der Tat handeln sie nach der Devise: »Nach uns die Sintflut!« Doch wird Gott der Allmächtige noch einmal so gnädig sein und den Auftrag zum Bau einer Arche erteilen? Wer sollte in diesem Fall die Rolle des Noah übernehmen? Und wird die in der Bibel genannte Größe der Arche – 133,5 Meter lang, 22,3 Meter breit und 13,4 Meter hoch – ausreichen, um die Menschheit und die unendliche Vielfalt der Tier- und Pflanzenwelt zu retten?

Die »kommenden Generationen« stehen vor gewaltigen, in der Menschheitsgeschichte bisher nicht gekannten Problemen und Herausforderungen. Niemand hat ein Patentrezept zu ihrer Bewältigung. Nur eines steht fest: Vom profitgierigen Kapitalismus ist weder eine humane noch eine dauerhafte Lösung zu erwarten. Von den Neoliberalen, die sich angeblich so sehr um die künftigen Generationen, in Wirklichkeit aber um den Fortbestand ihres Mensch und Natur ausplündernden Systems sorgen, schon gar nicht.