Wer hätte das gedacht: Im Land der freiheitlich-demokratischen Grundordnung haben wir bisher in Wahrheit unter einer Meinungsdiktatur gelebt und gelitten, allein die »rote Schickeria« hatte das Sagen. Aber dann trat er auf, der »Tabu-Brecher« (Focus), der »Klartext-Politiker« (Bild), der »ausspricht, was andere ahnten« (Henryk M. Broder), um den »Befreiungsschlag« zu führen (Necla Kelek). Und schon beginnt die »Hexenjagd« (Erhard Körting), das »Berufsverbot« wird verhängt (Helmut Markwort), der gute Mann soll »mundtot«, gar einen »Kopf kürzer« gemacht werden (Necla Kelek), ein »Schauprozeß« soll stattfinden (Sarrazin selbst).
»Das wird man ja wohl noch sagen dürfen« titelt Bild, »die Meinungsfreiheit ist bedroht« pflichtet Wolfgang Clement bei, und Klaus von Dohnanyi empört sich: »Nur in Deutschland macht man sich unmöglich, wenn man das Offensichtliche benennt.« Als »Scharfrichter« beschreibt Berthold Kohler (Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen) die Kritiker des Thilo Sarrazin; »die Freiheit der Andersdenkenden«, anders als »die Linke in Politik und Publizistik«, so fügt er hinzu, »war einmal«.
Aber der Aufstand ist im Gange, »mutige Blätter« fanden sich, die Sarrazin vorabdruckten (Kohler). Ein mutiger Verlag des Bertelsmann-Konzerns regte den Volkserwecker zu seinem Werk an und bringt es unter die Leute; über eine Auflage von 400.000 wird berichtet. Mutige Fernseh-Programmgestalter lassen Sarrazin zu Wort kommen, mutige Veranstalter laden ihn zu Vorlesungen ein, mutige Großbuchhändler sorgen für den Vertrieb seines Buches, mutige Redakteure verhelfen ihm zu Interviews. »Deutschland wacht auf. Danke, Thilo!« schreibt ein Leser der Jungen Freiheit, des schon seit längerem mutigen Wochenblattes der Neuen Rechten, und Karlheinz Weißmann, Vordenker dieser Avantgarde, freut sich: Ein »Mentalitätswandel« breche sich Bahn in der Bundesrepublik, mit Sarrazin komme »der gesunde Menschenverstand« wieder zum Zuge, »die seit 1945 oder 1968 systematisch verächtlich gemachte Fähigkeit, Erfahrung, Alltagswissen und Lebensklugheit zum Maßstab zu nehmen«.
Bis 1945 war »gesundes Volksempfinden« der gängige Begriff, aber das läßt sich eben moderner ausdrücken, wenn es gilt, gegen »Fäulnisprozesse im Inneren der Gesellschaft« (Sarrazin) Front zu machen. Das »ethnische Kapital« (Norbert Bolz) wird mobilisiert.