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Titel1910

Bomben auf das Judenviertel  (Rainer Butenschön)

Von den Touristen am Steinhuder Meer nahe Hannover wenig beachtet, befindet sich am östlichen Rand des idyllischen Binnensees die Luftwaffenbasis Wunstorf. In diesen Flughafen investiert die Bundeswehr derzeit viel Geld. Die Hauptstart- und -landebahn wird gegen die Proteste von Naturschützern von 1877 auf 2499 Meter verlängert. Gleichzeitig wird der Militärflugplatz mit einem neuen Präzisionsleitsystem ausgerüstet. Auch bei schlechtem Wetter sollen so die neuen Großraumtransporter der Bundeswehr vom Typ Airbus A 400 M von Wunstorf aus Truppen und Waffen auf die Tausende Kilometer entfernten Schlachtfelder dieser Erde fliegen können.

30 der 60 von der Bundesregierung georderten Flugzeugriesen sollen in Wunstorf stationiert werden. Die Basis gilt den Militärs wegen einer zweiten Start- und Landebahn als besonders sicher. Zudem liegt der Flugplatz, so das Verteidigungsministerium, »strategisch günstig – zentral in der Bundesrepublik Deutschland« – und kann »daher im Einzelfall von allen Flugplätzen der Bundeswehr und der NATO erreicht werden«.

Vor diesem Hintergrund kommen die Historiker Hubert Brieden und Timm Rademacher zu dem Schluß: Die Region Hannover, von der aus auch die 1. Panzerdivision kommandiert wird, die bei den globalen Kampfeinsätzen der Bundeswehr an vorderster Front marschiert, »entwickelt sich zur Drehscheibe zukünftiger Kriege«.

Diese Aussicht hat die beiden Wissenschaftler motiviert, der Geschichte des 1934 von den Nazis angelegten Fliegerhorstes und der dort stationierten Luftwaffeneinheiten nachzugehen. Einer verbrecherischen Geschichte, die (nicht nur) in Wunstorf beschwiegen und verharmlost wird. Auf der Luftwaffenbasis gibt es eine Halle, in der JU-52-Flugzeuge ausgestellt und verehrt werden, ohne daß deren todbringende Rolle etwa im Spanischen Bürgerkrieg oder bei der Vernichtung Warschaus deutlich gemacht würde.
»Luftwaffe, Judenvernichtung, totaler Krieg. Guernica, Lomza, Warschau, Coventry ...« – unter diesem Titel breiten Brieden und Rademacher auf 339 spannend zu lesenden Seiten zum Teil bislang unerforschte Kriegs- und Holocaust-Geschichte aus. Über die Beteiligung von Luftwaffeneinheiten aus Wunstorf und Hannover-Langenhagen an der deutschen »Legion Condor« und der Ausradierung der baskischen Kleinstadt Guernica im Spanischen Bürgerkrieg haben Brieden und der Arbeitskreis Regionalgeschichte bereits in den 1980er und 1990er Jahren mit zwei Publikationen wertvolle Aufklärungsarbeit geleistet, die sie nun vertiefen und erweitern. Neu ist vor allem ihre gründliche Beschäftigung mit dem Rasse- und Vernichtungskrieg, als den die Nazis bereits den Überfall auf Polen geführt hatten. In der Literatur gab es bisher nur vereinzelte Hinweise, daß deutsche Kampfflugzeuge besonders intensiv jüdische Wohnquartiere in Polen bombardiert hatten: »Besonders stark brennt das Judenviertel ...«, freute sich beispielsweise ein Kommandeur am 13. September 1939 nach einem Luftangriff auf Warschau, bei dem aus 5000 Metern Höhe 7000 Brandbomben abgeworfen worden waren. Brieden und Rademacher haben diese Bombardements erstmals systematisch an Hand von Archivmaterial und Erinnerungsliteratur ehemaliger Kampfflieger und anderer Zeitzeugen untersucht. Sie weisen solche gezielten Angriffe auf jüdische Viertel während der 27-tägigen Bombardierung von Warschau im Herbst 1939 nach, aber auch auf andere polnische Städte wie etwa die Kleinstädte Pinks oder Lomza, die von Nazi-Bevölkerungswissenschaftlern zuvor als »Judenstädte« bezeichnet worden waren.

»Hatte die deutsche Luftwaffe mit den Bombardierungen offener Städte während des Spanischen Bürgerkrieges gezeigt, daß sie imstande war, eine widerständige, vermeintlich »bolschewistenfreundliche« Zivilbevölkerung zu terrorisieren, gegebenenfalls auch zu vernichten, demonstrierte sie mit der Brandschatzung der jüdischen Viertel Warschaus, daß sie darüber hinaus bereit und fähig war, den Luftkrieg zu radikalisieren und gezielt zur Terrorisierung und Auslöschung unerwünschter Bevölkerungsgruppen einzusetzen – also nicht nur den »Klassenkrieg«, sondern auch den »Rassenkrieg« zu führen«, fassen Brieden und Rademacher zusammen und beklagen: »In der deutschen Geschichtsschreibung zum Zweiten Weltkrieg wird die gezielte Bombardierung der jüdischen Stadtteile Warschaus, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, nicht einmal erwähnt.«

Auch andere Lücken der Geschichtsschreibung – etwa hinsichtlich der beschämenden Traditionspflege der bundesdeutschen Luftwaffe – schließt dieses sehr lesenswerte Buch. Es ordnet die Kriegspolitik der Nazis zutreffend in die Expansionsstrategien des deutschen Kapitals ein und provoziert beunruhigende Fragen: »Der Fliegerhorst Wunstorf war einzig und allein gebaut worden, um völkerrechtswidrige Angriffskriege gegen andere Staaten vorzubereiten und zu führen«, formulieren die Autoren – und stimulieren angesichts des aktuellen Ausbaus des Militärstützpunktes Zweifel, ob diese mörderische Vergangenheit wirklich abgeschlossen ist.

Hubert Brieden/Tim Rademacher: »Luftwaffe, Judenvernichtung, totaler Krieg. Guernica, Lomza, Warschau, Coventry ... Deutsche Geschichtspolitik, Traditionspflege in der Garnisonsstadt Wunstorf, Vergessene Geschichte in Hannover-Langenhagen«; Verlag Arbeitskreis Regionalgeschichte, 339 Seiten, 16.50 €