In keiner zweiten deutschen Stadt ist die Einwohnerschaft derzeit so in Bewegung wie in Stuttgart. In den Straßen finden Demonstrationen statt, deren Teilnehmerzahl seit Anfang August von Woche zu Woche steigt. Auf Montagsumzüge – gut bekannt aus Leipzig, als es noch Bezirkshauptstadt in der DDR war –folgen solche an Freitagen. Protestiert wird gegen ein Bauprojekt. Doch es ist kein lokales Ereignis. Davon zeugen die abendlichen Fernsehnachrichten, die immer wieder mitteilen, daß diejenigen, die sich da versammeln, einen oberirdischen »Kopfbahnhof« gegen das Vorhaben verteidigen, ihn durch einen unterirdischen Bahnhof zu ersetzen. Das hat sich herumgesprochen. Auch, daß das Vorhaben eine Milliardensumme verschlingen würde, von der jeder, der die Geschichte ähnlicher Projekte kennt, weiß, daß es bei ihr nicht bleiben wird. Doch die Gemütlichkeit der Schwaben hat nicht nur wegen Geldsachen aufgehört.
Was derzeit in Stuttgart geschieht, läßt lernen – und dieser Vorgang sollte nicht auf die Teilnehmenden beschränkt bleiben. Also: Schaut auf diese Stadt. In ihr haben Bürger aus unterschiedlichen Antrieben zu einer bunten Aktion zusammengefunden. Den einen ging es um die Erhaltung eines Bauwerks mit Denkmalwert. Anderen um die Bewahrung eines Baumbestands. Dritte hielten das Projekt für überflüssig und seinen angegebenen Nutzen für vorgetäuscht. Wieder andere sahen die Mittel, die seine Verwirklichung erfordern würde, für andere Zwecke dringlicher und sinnvoll eingesetzt. Fachleute verwiesen auf unberechenbare Folgen des Tunnelbaus für Wasserquellen unter der Stadt. Manche dieser Gruppen besitzen eine eigene Organisation, veröffentlichen ihre Standpunkte, halten über das Internet Verbindung untereinander, informieren sich täglich über den Fortgang der Auseinandersetzung.
Zunächst schien das alles eine Bewegung mit marginalem politischem Gehalt zu sein. Das änderte sich angesichts der Reaktion derer, die das Projekt durchsetzen wollen, eines Klüngels aus Politik und Wirtschaft. Der glaubte lange, das Contra aussitzen zu können, und strafte die Protestierenden mit Nicht- oder Mißachtung. Diese Reaktion brachte Menschen auf die Beine, die – hatten sie mit der Obrigkeit gleiche Erfahrungen schon gemacht oder nicht – bis dahin beobachtend abseits standen. Gelegentlich tauchte eine von den Herrschenden einst viel gelobte ostdeutsche Losung aus dem Jahre 1989 auf: »Wir sind das Volk.« Manche setzten schwäbisch hinzu: »Wir sind das Geld.« Offenkundig hat ein Teil der Bundesbürgerschaft den Umgang mit ihren Steuergeldern, der mit den Bankenstützungen, den staatlichen Geschenken an Reiche und den aktuellen milliardenschweren Draufgaben an Aktionäre der Atomkraftwerke Gipfel nach Gipfel erreichte, gründlich satt. Politiker kamen ins Grübeln. Sie sahen die parteipolitische Konkurrenz, die sich dem Protest zugesellt, gar an dessen Spitze gestellt hatte, Sympathie gewinnen, und ihre Phantasie reicht aus, sich das Ergebnis bald bevorstehender Wahlen auszumalen. Es wird ihnen obendrein auf Transparenten angekündigt.
Wie die Dinge sich entwickelten, schöpften die einen Hoffnungen, während andere von Zweifeln beschlichen wurden oder schon in Schwierigkeiten gerieten. Wie sollten sich die bürgerlichen Blätter mit dem Blick auf ihre geteilte Leserschaft verhalten? Sie mahnten »Wir sind doch alle Stuttgarter« und »Wir wollen die Stadt nicht spalten« und lobten den friedlichen Charakter der Proteste. Mit anderen Worten, sie wiegelten ab. Dieweil ließ die Obrigkeit – Argumente hin, Demonstrationen her – den Abrißbagger in Stellung bringen. Den besetzten einige Aktivisten, damit er nicht in Aktion treten könne. Andere richteten sich auf Bäumen ein, denen die Säge droht. Auch für solche Fälle hat der Staat eine Polizei. Die brachte die Aktivisten auf die Erde und den Boden der Tatsachen und kündete ihnen die Rechnung für die Kosten der Operation an.
Während das Zerstörungswerk begann, ergänzten Ministerpräsident und Oberbürgermeister ihre Taktik des Aussitzens durch einen Vorschlag. Sie luden Personen aus der Spitze der Bürgerbewegung zum gemeinsamen Aussitzen ein. In der Sprache, mit der wahre Absichten in der Politik vernebelt werden: Sie zeigten sich »gesprächsbereit«. Die Proteste sollen zugelabert werden. Wer derlei Offerte nicht annimmt, erhält den Stempel »schlechter Demokrat« (oder besser »Extremist«), denn die Guten und Vernünftigen verständigen sich miteinander. Worüber, bitte sehr? Und die Führer der Sozialdemokratie, bisher strikte Parteigänger des Projekts, verfielen beim schielenden Blick auf ihre Klientel auf die Idee, sich nun für einen bisher von ihnen stets abgelehnten »Volksentscheid« auszusprechen. Nicht um das Vorhaben zu begraben, sondern um den Bürger zu Worte kommen zu lassen und – dies die Übersetzung ins Praktische – ihn von der Straße zu bringen und Zeit zu gewinnen.
Die Bewegung K (für Kopfbahnhof) 21 gegen »Stuttgart 21« steht vor einer Entscheidung. Ihre bisherigen Aktionen haben die Adressaten unbeeindruckt belassen, will man nicht Finten als Erfolge werten. Das Angebot, während der »Gespräche« dem Baggerführer eine Arbeitspause zu lassen, spricht Hohn. Wie also weiter? Die Form der Protestaktionen wird auf den Prüfstand müssen. Daran führt nur ein Weg vorbei: der in den Mißerfolg.