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Titel1910

Ein Lehrbuch über den Rechtsstaat  (Friedrich Wolff)

Heinrich Hannover war bis in die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts einer der bekanntesten deutschen Strafverteidiger. Der Gerichtsreporter des Stern, Jürgen Serke, veröffentlichte 1976 ein Buch mit dem Titel »Strafverteidigung in Deutschland«. Darin stellte er exemplarisch acht Strafverteidiger vor. Einer davon war der in Bremen arbeitende Hannover, ein anderer der Ostberliner Friedrich Karl Kaul. Das Hannover gewidmete Kapitel war überschrieben »Heinrich Hannover oder Linker Mann was nun?«. Da erfuhr der Leser auch, daß der Rechtsanwalt zudem der Verfasser beliebter Kinderbücher wie »Das Pferd Huppdiwupp«, »Die Birnendiebe vom Bodensee« und »Der müde Polizist« ist.

Hannover hat mehrere Bücher herausgegeben, die auf seinen Erfahrungen als Verteidiger beruhen, eben erst ist als vorläufig letztes »Reden vor Gericht« erschienen. Hochinteressant für jeden, der den realen Rechtsstaat erleben will. Das Wesen eines Staates wird nirgendwo ungeschminkter erkennbar als im Gerichtssaal. Das gilt besonders, wenn dort Strafprozesse verhandelt werden, und erst recht, wenn es politische Prozesse sind.

In den »Reden vor Gericht« werden 17 Plädoyers im Wortlaut wiedergegeben, die der Verfasser in den Jahren von 1963 bis 1993 gehalten hat. 30 Jahre Bundesrepublik, 30 Jahre Rechtsstaat, wie man sie weder aus den Medien noch aus Geschichtsbüchern kennen lernt. 14 sind Plädoyers in politischen Verfahren. Man erfährt, daß es politische Prozesse nicht nur in »totalitären« Staaten, sondern auch in der BRD gab, gegen wen sie gerichtet waren und gegen wen nicht, wie sich Gerichte und Staatsanwälte in politischen Prozessen verhielten, wie sie Angeklagte und Verteidiger behandelten und welche Urteile sie sprachen.

Hannover schreibt: »Zu meiner Klientel gehörten auch Angeklagte, die dem herrschenden Zeitgeist widersprochen und zuwidergehandelt hatten, Pazifisten und Antimilitaristen, Kommunisten und linke Sozialdemokraten, Antifaschisten und Zeugen Jehovas, revoltierende Studenten und Gewerkschafter, ›Landesverräter‹, Mitglieder der RAF und – nach der Wende – ›staatsnahe‹ Bürger der DDR. Und da gab es Anfeindungen, die nicht nur meine Mandanten, sondern auch deren Verteidiger trafen und dazu führten, daß die Ausübung anwaltlicher Redefreiheit von der ständigen Bedrohung begleitet war, mich durch Ehrengerichtsverfahren zur Ordnung zu rufen.« Solche Verfahren konnten den Rechtsanwalt seine Existenz oder viel Geld kosten.

So erging es Hannover 1974 in einem Verfahren, das gegen seinen Mandanten geführt wurde, weil dieser in der Zeitschrift Rote Fahne die BRD als »Kapitalistenstaat« bezeichnet hatte, der die Bevölkerung ausplündere. Das Prozeßklima war »äußerst gereizt«, und alle »Äußerungen der Verteidiger wurden von einer gerichtsseitig beauftragten Stenografin mitgeschrieben, so daß die Absicht offensichtlich war, uns Verteidiger nach dem Ende der Hauptverhandlung mit einem Ehrengerichtsverfahren wegen angeblicher Standeswidrigkeiten zu belangen«. Der Angeklagte wurde verurteilt, seine Revision vom Bundesgerichtshof verworfen, und die Verteidiger mußten eine Geldbuße zahlen. Kommentar von Heinrich Hannover: »... im selben Moment, wo es sich um einen politischen Prozeß gegen Linke handelt, da geraten diese Grundsätze (über die Beweisführung; F.W.) in Vergessenheit, da gilt nicht einmal mehr die Magna Charta des Angeklagten auf Beweisführung durch präsente Beweismittel. Klassenjustiz stolpert nicht über die juristischen Zwirnsfäden der Strafprozeßordnung.«

Das »gereizte Prozeßklima«, das Heinrich Hannover damals feststellte, bekam er in politischen Prozessen häufiger zu spüren. So 1983/84 bei der Verteidigung eines Terroristen. Der Autor berichtet: »Ich hatte die nicht nur in der Hauptverhandlung, sondern auch in der Medienöffentlichkeit üblichen Verdächtigungen und Beschimpfungen des ›Terroristenverteidigers‹ über mich ergehen lassen müssen. Ich hatte die entwürdigenden Durchsuchungen vor Betreten des Gerichtssaals durchgemacht. Ich hatte eine rücksichtslose Terminplanung kennengelernt, die jede anwaltliche Tätigkeit für andere Mandanten monatelang unmöglich machte und sich zu einer existenziellen Gefährdung des Anwalts auswuchs. Auch an der Gesundheit ging die enorme psychische Belastung durch ein solches in feindseligem Prozeßklima geführtes Mammutverfahren nicht spurlos vorüber.« Hannover verschweigt nicht, daß es auch faire Richter und Staatsanwälte gibt. Sie scheinen jedoch die Ausnahme zu sein.

Milde zeigten die Gerichte in den Fällen, in denen sie das Verhalten von (ehemaligen?) Nazis zu beurteilen hatten. So sagte Heinrich Hannover 1986 als Nebenkläger im Prozeß gegen den Mörder des Kommunisten Ernst Thälmann: »Es ist zu bedauern, daß der Bundesgerichtshof zur Bewältigung der NS-Vergangenheit vorwiegend Beiträge geleistet hat, die dazu führten, daß ganze Bataillone von Naziverbrechern mit verhältnismäßig lächerlich geringen Strafen oder ganz straffrei davongekommen sind.« 1995 gab ihm der BGH Recht. Das höchste deutsche Gericht für Strafsachen stellte eine »insgesamt fehlgeschlagene Auseinandersetzung mit der NS-Justiz« fest.

Hannover hatte Anlaß, auch in unpolitischen Verfahren Kritik zu üben. So in einem Strafprozeß, den er als sein wichtigstes Mandat bezeichnet. Sein Mandant, ein Mann mit homosexuellen Neigungen und alkoholabhängig, war durch fehlerhafte polizeiliche Ermittlungen, besonders durch eine allen Regeln widersprechende Gegenüberstellung so verdächtig geworden, daß Hannover kaum noch glaubte, das Gericht von seiner Unschuld überzeugen zu können. Tatsächlich verurteilte das Landgericht den Angeklagten wegen Vergewaltigung und Mord zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren. Typisch die Bemerkung Hannovers: »Das mit routinierter Hand revisionssicher begründete Urteil wäre mit Sicherheit unanfechtbar gewesen, wenn mir nicht ein Glücksfall zu Hilfe gekommen wäre. Es stellte sich heraus, daß bei der Schöffenbestellung ein Fehler unterlaufen war, so daß der BGH das Urteil auf meine Revision aufheben mußte.« Es kamen noch zwei weitere Glücksfälle hinzu, darunter daß eine verschwundene Spurenakte wieder auftauchte. – Nicht ermutigend, daß man Glück haben muß, um nicht unschuldig verurteilt zu werden.

Dies und anderes erfährt der Leser aus den »Reden vor Gericht«. Ein Lehrbuch über den Rechtsstaat und die Bundesrepublik, das sich spannend liest oder von der beigefügten CD mithören läßt.

Heinrich Hannover: »Reden vor Gericht«, Papy Rossa Verlag, 276 Seiten, 22 €