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Titel1910

20 Jahre Kammeroper Rheinsberg (II)  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

Zwischen dem Heckentheater im Park, einem alten Spielort der Rheinsberger Kammeroper, und der neuen Mehrzweckhalle namens Arena konnte ich in diesem Jahr innerhalb weniger Tage Vergleiche ziehen.

Der neue »Don Giovanni« wurde zunächst in der Hecke gespielt, für die er auch inszeniert worden war: mit weit ausladenden Volksszenen des Karl-Forster-Chores und großen Aktionen des Don, der aus der Tiefe kam und in dieser wieder verschwand. Doch musikalisch ging manches verloren, trotz der sängerischen Qualitäten, die der junge Don, der Mexikaner Alejandro Larraga Schleske, an diesem Abend bot. Darstellerisch erfüllte er die gewaltige Figur weniger, was auch ein Problem der Regie (Martin Schüler) war. Am letzten Abend mußten wir in die Arena – der außerordentlich hohen Luftfeuchtigkeit wegen – und erlebten eine erheblich reifere, auch musikalisch schönere Vorstellung, den Don selbst ausgenommen. Besonders zu loben ist der sonst immer so steife Don Ottavio, hier als bewußter, für seine Standesehre handelnder Aristokrat, dargestellt von dem Tenor Manuel Günther – bravo! Die Arena bewährte sich. Und wieder einmal erlebten wir, wie junge Künstler an der Kammeroper lernen und wie eine Inszenierung musikalisch wie darstellerisch reift. Ein Grundfehler dieser Inszenierung wurde freilich nicht behoben: die Gesamtszene als Friedhof. »Don Giovanni« ist kein Todesstück. Mozart komponierte stürmischstes Leben, und Tod ist nur am Beginn und am Ende, quasi als Gericht.

Wie alle Unternehmungen größeren Umfangs bedarf auch die Kammeroper einer Organisation, vor allem dann, wenn sie ihr eigenes Genre – das des Kammerspiels, also der kleineren Form im Theater – oft überschreitet. Zur Organisation gehört Finanzierung – eine immer wieder neue Aufgabe. Staatliche Quellen reichen nicht, Stifter müssen her. Die Kammeroper wurde von 1990 bis 1996 vom Kunst- und Kulturverein Rheinsberg getragen; seit 1997 ist sie eine gemeinnützige GmbH, der ein Kuratorium von knapp 30 Personen vorsteht: Dirigenten wie Barenboim, Masur und Thielemann, Regisseure wie Kupfer, Kritiker wie Joachim Kaiser, Politiker wie der jeweilige Bürgermeister und die bisherige brandenburgische Kulturministerin. Mehr wäre zuviel. Außerordentliche Engagiertheit, Liebe zur Sache muß vorausgesetzt werden. Und das ist ja gerade der Vorzug dieser Kammeroper der jungen Leute: ihre Begeisterung, ihr bereits vorhandenes Können und ihr Wunsch zu lernen, vor allem Bühnenpraxis. Sie singen umsonst, die Institution übernimmt nur Miete und Speisung.

Aber die Lehrenden müssen bezahlt werden, die Regisseure, Szenografen, Dirigenten und die Orchester, meist die Brandenburger Symphoniker, Brandenburgische Philharmonie Potsdam und Neubrandenburger Philharmoniker, auch das Sinfonische Orchester Babelsberg, das Deutsche Filmorchester Babelsberg, das Staatsorchester Braunschweig und andere, mitunter Jugendorchester oder eigens zusammengestellte wie 1997 in der glasklaren und witzigen Inszenierung des »Albert Herring« von Benjamin Britten das Britten-Pears-Orchestra. 1992 hatten wir von Britten und Pears schon den »Sommernachtstraum« als konzertante Aufführung gehört, dirigiert von Stefan Sanderling, einem Nachkommen der berühmten Dirigenten-Familie. Weitere klangvolle Namen aus diesem Gewerbe: Jonas Alber, Daniel Inbal, Ingo Ingensand, Rolf Reuter, in neuerer Zeit Michael Helmrath und Will Humburg; nicht zu vergessen sei der Korrepetitor Olav Kröger. Auch einige Regisseure müssen genannt werden, erfahrene Meister der Opernregie wie Erhard Fischer, Götz Friedrich, Harry Kupfer oder Christian Pöppelreiter und jüngere wie Kay Kuntze, Frank Matthus und Martin Schüler.

Die hier aufgeführten Werke – meist in gut deutenden Inszenierungen, manchmal in weniger geglückten Auszügen oder konzertant – reichen vom frühen Barock bis in die Moderne, von Monteverdi bis zu unserem Maestro Matthus selbst. Leider ist auch von einem mißglückten Versuch einer Gegenwartsoper zu berichten. Die Vorlage gaben zwei der größten Nationaldichter: Goethe und Hacks: »Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern« (1996). Wie war man nur auf den Einfall gekommen, so ein köstlich Stücklein von fünf KomponistInnen vertonen zu lassen – nachdem just Hacks ganze Theorie-Batterien gegen solche Art »Kollektivkunst« abgeschossen hatte.

Von Mozart, der jedes zweite Jahr mit einer Neuinszenierung ins Programm kommt, vermißte ich bisher nur »Titus« und »Idomeneo«. Einmal wagte man sich an Wagner. Von Stockhausen erklangen die schönen Indianerlieder »Am Himmel wandre ich«, von Gershwin »Porgy and Bess«. Gelegentlich kam auch ein bißchen Operette hinzu, in diesem Jahr »Frau Luna von Paul Lincke, der Hit von gestern! Wo bleibt hingegen der große Offenbach, wo die Strauß Vater und Sohn? Mit Wonne stelle ich mir die jungen Künstler in »Pariser Leben« auf dem Schloßhof oder in der Hecke vor! Von mir aus auch »My fair Lady« mit Eleganz und bestem Rhythmus. Das ist doch etwas für die jungen Macher!

Ich sehe in der Kammeroper Rheinsberg ein Modell – aus drei Gründen: erstens weil Künstler-Persönlichkeiten ohne Ansehen nach Aussehen, Hautfarbe, nationaler oder sozialer Herkunft ausgewählt werden, entscheidend sind Stimme, Gesangskunst, Musikalität und Geeignetheit für die Partie – alle sind gleich nach dem Grundsatz Stanislawskis: »Es gibt keine kleinen und großen Rollen, nur kleine und große Künstler!«; zweitens weil die jungen Künstler sich ohne Gage engagieren, nur für Unterkunft und Speise und Lebenskultur; drittens weil sie kollektiv arbeiten, in Inszenierung und Interpretation einbezogen werden und dabei auch die Autorität der künstlerischen, technischen und ökonomischen Leiter anzuerkennen lernen. Sie lernen, Kritik zu nehmen und, wenn nötig, zu geben. Hier wird unter kluger Führung Demokratie gelebt. So ist dieses kleine, inzwischen weltweit bekannt Festival in einer kargschönen Landschaft zu einem Kunst- wie Lebensmodell überhaupt geworden.

Um nicht zu feierlich zu enden, richte ich eine Frage an mich selbst: Welche Aufführung in zwanzig Jahren hat sich mir am tiefsten eingeprägt? Der »Cornet«? »Die Kluge« von 1993 mit dem mitspielenden Mond? »Cosi fan tutte«? »Albert Herring«? Der »Don Giovanni« von 2002 mit Argiris? »Falstaff«? Nein, es war eine äußerlich kleine Aufführung aus dem Jahre 1998: »Briefe des van Gogh« von Grigori Frid. Hier trat aus dem unendlichen Künstler- und Menschenleid Ahnung oder gar Hoffnung auf eine humane Gesellschaftsordnung hervor, und darin sehe ich das Leitmotiv dieses Festivals, dadurch erlangt es seinen Modellcharakter. Ein Modell aus Weisheit. Diese räumlich so bescheidene, geistig so riesige Oper werde ich niemals vergessen.