Wenn Sie schon mal mit der Fähre in Trelleborg gelandet sind und sich auf Tucholskys schwedische Spuren begeben wollen – 120 Jahre nach seiner Berliner Geburt und 75 Jahre nach seinem Göteborger Ableben –, dann fädeln Sie sich am besten über den Zubringer 108 auf die lange Fernverkehrsstraße 23 ein. Und wenn Sie von ihr nach etwa 400 Kilometern nicht abgekommen sind, wird Ihnen nach bestenfalls fünf Stunden irgendwann und unübersehbar das smalländische Städtchen Vimmerby avisiert.
Als belesener Mensch wissen Sie, daß dort die Schriftstellerin Astrid Lindgren gelebt und geschrieben hat, die Bauerntochter, die Pippi Langstrumpf erfunden hat und auf ihre alten Tage noch im Limonadenbaum herumgeklettert ist. Wenn das alles schon auf Ihrer Festplatte gespeichert ist, können Sie sich den wiederholten Besuch von »Astrids Welt« und des sehr einfühlsam eingerichteten Museums getrost verkneifen. Aber wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, lassen Sie die 23 trotzdem allein weiter nach Norden verlaufen und schwenken Sie in die Landstraße nach Rumskulla ein. Dann kommen Sie, für schwedische Verhältnisse erstaunlich, erst mal an einer Brauerei vorbei, vor der die Straße sicherheitshalber scharf nach rechts abknickt. Nach weiteren 200 Metern schwenkt sie dann nach links ab, und Sie brausen zwischen dichten Wäldern durch die Landschaft, in denen man in Tucholskys »fünfter Jahreszeit« den Wald vor lauter Pilzen nicht sieht. Aber zur Pilzjagd wollte ich Sie nicht motivieren, sonst können Sie den Rest des Tages glatt vergessen. Fahren Sie also weiter, achten Sie aber auf die scharfen schwedischen Kurven. Nach ungefähr zwölf Kilometern – es können auch 15 sein – bietet Ihnen ein Wegweiser an, links in die Dörfchen Brånhult oder Målen abzubiegen. Nehmen Sie das Angebot an, und entscheiden Sie sich für Målen. Der Weg dahin ist im Grunde nur eine ausgefahrene Spur, und wenn Ihnen jemand entgegenkommen sollte, bleibt nur die Flucht auf eine Fichte. Aber schon nach kurzer Strecke lichtet sich der Wald zu einer Schneise, und Sie stehen vor Renates und Bodos Feriendörfchen Målen. Und wenn Sie das sehen, halten Sie erst mal ihr Auto und dann die Luft an. Dabei wissen Sie noch nicht mal, daß beide, seit einigen Jahren zwischen schwedischen Preiselbeeren lebend, Ossietzky-Abonnenten und Mitglieder der Tucholsky-Gesellschaft sind. Und damit sind wir schon bei der deutsch-schwedischen Familiensaga, und die begann so:
Bodo – das müssen Sie wissen – stammt aus einer alten Artistenfamilie. Die Lebensgeschichte seiner Eltern und zum Teil auch die seiner Geschwister ist mit dem Zirkus Renz verbunden. Vater Julius haben seine Attraktionen unter der Zirkuskuppel ungeteilten Applaus beschert; seine offen geäußerten kommunistischen Überzeugungen brachten ihm allerdings mehr Mißfallen ein als Beifall.
Bodo fuhr bereits zu DDR-Zeiten mit »Weisheits Luftpiloten« um die halbe Welt. Besonders beeindruckten ihn die Landschaft und die Mitmenschlichkeit in Schweden. Daß dieses Land einmal seine Heimat werden sollte, konnte niemand voraussehen. Daß er einmal schwedischer Staatsbürger sein würde, schon gar nicht. Bis dahin bedurfte es einiger Zwischenstationen.
Während der Wintermonate, wenn der Motorradverkehr und die Balance-Akte auf dem Seil und dem Mast aus wetterbedingten Gründen ruhten, verdiente Bodo seine Brötchen im Harz als Kellner und Tresenkraft in Gaststätten und Gewerkschaftsheimen. Da lernte er in einem Restaurant auf dem Hexentanzplatz die attraktive Serviererin Renate kennen, die mit dem dort beheimateten Hexenvolk glücklicherweise nichts gemeinsam hatte. Sie jonglierte täglich überladene Tabletts durch die Ausflüglermassen und kam folglich, wie Bodo auch, aus dem artistischen Genre. Da er wegen der allmählich eintretenden Altersreife den Tanz auf dem Seil und den einarmigen Handstand auf dem rotierenden Mast gegen Tänze auf anderen Bewährungsebenen eintauschen mußte, taten sich beide zusammen und übernahmen im idyllischen Bodetal die jahrelang verkommene und dann stillgelegte HO-Kneipe »Hirschgrund«. Sie päppelten das Unternehmen so auf, daß es nach der unblutigen Revolution von 1989 wieder zu seinem antiken aristokratischen Namen »Königsruh« zurückkehren konnte. Mehrmals wurden dort Szenen für die beliebte Fernsehserie »Polizeiruf 110« gedreht.
Ärger kam auf, als sich beide als Abgeordnete in demokratisch gewählten Gremien gegen die Rückgabe der nach dem Kriege verstaatlichten Harzwälder an die Nachfahren der Welfen-Dynastie, repräsentiert von dem durch seine provozierenden Auftritte bekannten Ernst August Prinz von Hannover, zur Wehr setzten. Ihre Opposition galt als kommunistisch infiltriert, und die neualten Besitzer konnten sich erst ins Fäustchen und anschließend in die Säge lachen. In einem solchen Land wollten Bodo und Renate Endres nicht mehr leben. Über das Zielland der Emigration bestand in der Familie, zu der inzwischen zwei Kinder gehörten, Übereinstimmung, und die nunmehr bestehende Reisefreiheit ließ sie das Unterfangen zügig angehen. Sie erlernten die schwedische Sprache, informierten sich über die schwedische Verfassung, über wichtige Gesetze und Verordnungen und suchten nach einem geeigneten und erschwinglichen Domizil für sich und ihre Tiere: Pferde, Hunde, Katzen, einen Raben und einige mehr. Mit Unterstützung der Kommune Vimmerby entstand ein neues kleines Schwedendorf: Målen. Da trifft man nun Schüler und Touristen aus vielen Ländern, die miteinander reden, Sport treiben und musizieren und sich davon überzeugen, daß Tucholskys Visionen vom »Haus Europa« Wirklichkeit werden könnten.
Werter, auf der Spurensuche vom Wege abgekommener Tucholsky-Tourist, entschuldigen Sie bitte die Umleitung! Sie sollten sich jetzt wieder nach Vimmerby begeben und die Fahrt auf der Fernverkehrsstraße 23 fortsetzen, in Linköping auf die Europastraße 4 Richtung Stockholm wechseln und diese nach eineinhalbstündiger Fahrt erst dann verlassen, wenn ein Richtungsschild die Abfahrt zur Straße 123 nach Mariefred empfiehlt. Sie wissen, dort liegt Tucholsky auf dem Friedhof – unter einer Eiche, die er sich noch selber aussuchen konnte.