»Immer sind wir gefragt: Wie wir Älteren denn den jungen Bürgern die reale Welt von morgen deuten, damit sie keinen politischen Lügen auf den Leim gehen und die Wahrheit erkennen, um sich der eigenen Verantwortung zu stellen... Immer geht es um ihre konkrete Mitverantwortung als Bürgerinnen und Bürger, um Solidarität und Wahrheit nicht nur für das eigene Leben, sondern auch das Leben anderer.« Diese eindringliche Warnung vor politischen Lügen, dieser leidenschaftliche, zu Herzen gehende Aufruf zur Wahrheit stammt von Freimut Duve, dem namhaften SPD-Politiker, der seine Partei von 1980 bis 1998 im Deutschen Bundestag vertrat und anschließend bis 2003 erster OSZE-Beauftragter für die Freiheit der Medien mit Sitz in Wien war. Formuliert hat er beides – Warnung und Appell – in einem Beitrag unter der Überschrift »Gedanken an den Krieg? Einige Lebensprägungen«, den KunstundKultur, eine Zeitschrift der Gewerkschaft ver.di, kürzlich veröffentlichte.
Zu den Lebensprägungen gehört sicherlich die Ermordung der jüdischen Familie seines Vaters durch kroatische Faschisten (Ustaschas) 1941 in Osijek. Man hätte erwarten könne, daß er sensibel reagierte, als in den 1990er Jahren die deutsche Außenpolitik sich mit den Nachfolgern der Ustascha gegen die Serben verbündete. Doch seine Wahrheitsliebe – was sonst? – veranlaßte ihn zu ganz anderen Reaktionen. Als im Oktober 1992 die PDS im Bundestag einen Antrag gegen die Politik der einseitigen antiserbischen Parteinahme im jugoslawischen Bürgerkrieg einbrachte, verurteilte Duve zornbebend das Ansinnen als »unglaublich« , ja »abscheulich«, denn »diese Schuld haben die Serben auf sich geladen ... die serbische Armee führt einen Todeskrieg gegen Wehrlose. Zu welchem Zweck? Landraub und Vertreibung.« Auf eine Beweisführung für diese Behauptung verzichtete er, offenkundig aus Zeitgründen.
Zwei Jahre später nimmt er sich mehr Zeit für seine einseitige Parteinahme und die Dämonisierung der Serben. In der taz schreibt er zum Krieg in Bosnien: »Wenn aber je rechtsradikale Burenköpfe auch nur verbal gefordert hätten, was die serbische selbstmitleidige Soldateska seit zwei Jahren in jedem Dorf, in jeder Stadt, in jedem Flüchtlingslager betreibt: den tagtäglichen tödlichen Trennungsterror – der Aufschrei wäre weltweit gewesen. So viel Apartheid, wie Mladic und Karadzic herbeischießen und herbeiquälen, hat es in den 30 Jahren der südafrikanischen Variante nicht gegeben. Die bosnischen Serben haben seit zwei Jahren mit jedem Wort und jedem Schuß erkennen lassen, daß Menschen anderer Religion in ihrem Herrschaftsbereich keine Überlebenschance haben. Nicht einmal als Arbeitssklaven ...« Bei solch ausgewogener Einschätzung konnte es nicht verwundern, daß sich der wahrheits- und friedliebende Bosnien-Experte nicht gerade als Gegner der Luftschläge der NATO gegen die bosnischen Serben erwies, denn: »Wenn alle friedlichen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, dann hilft nur noch die Bereitschaft zur Gewalt.«
Als die bosnisch-serbische Armee die sogenannte Schutzzone von Srebrenica, aus der immer wieder Terrorangriffe gegen die umliegenden serbischen Ortschaften erfolgten, einnahm und es zu dem schrecklichem Blutvergießen kam, das heute, obwohl Ausmaß und Hintergründe noch immer umstritten sind, in den tonangebenden Medien als das »größte Kriegsverbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg« genannt wird, da prägte er in der Hamburger Zeit das Wort von der »Rampe von Srebrenica« als »das wirkliche Signal gegen den Frieden in Europa«. Vier Jahre später übernahm der grüne Außenminister Joseph Fischer die sich aufdrängende Assoziation zum faschistischen Massenvernichtungslager und begründete mit der Losung »Nie wieder Auschwitz!« die deutsche Teilnahme an der verbrecherischen Aggression gegen Jugoslawien. Bescheiden, wie er ist, hat Duve bis heute keinerlei Urheberrechte an dieser Kriegsrechtfertigung geltend gemacht.
Dafür weiß er in seinem Beitrag für das Gewerkschaftsblatt Neues, ja Sensationelles zu berichten. Das gilt weniger für seine Behauptung, daß die Tito-Nachfolger »schon früh alle führenden Offiziere der ehemaligen jugoslawischen Armee heraus(ekelten), die nicht ›rassisch‹ serbischer Abstammung waren. Schon nach kurzer Zeit«, so Duve, »gab es dort weder bosnische noch albanische oder kroatische Offiziere. Auf diese Weise hatte Belgrad die Führung der jugoslawischen Armee in eine völkisch gelenkte serbische Armee verwandelt.« Hier unterlief dem Freund der Wahrheit ein bedauerlicher kleiner Irrtum. Nach dem Ableben Titos im Mai 1980 wechselten die jugoslawischen Staatsoberhäupter, die Vorsitzenden des Präsidiums der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien, die zugleich Oberbefehlshaber der Armee waren, jährlich nach einem strengen nationalen Schlüssel. Es ist schwerlich anzunehmen, daß gerade sie, darunter der Slowene Sergej Kraigher (1981–82), der Kroate Mika Špiljak (1983–84), der Albaner Sinan Hasani (1986–87), der Mazedonier Lazar Mojsov (1987-88), der moslemische Bosnier Raif Dizdareviæ (1988–89) sowie der Kroate Stjepan Mesiæ (1991), alles taten, um ihre eigenen Landsleute aus führenden Positionen in der Armee »herauszuekeln« und durch serbische Offiziere zu ersetzen. Selbst der letzte Verteidigungsminister der SFRJ, der frühere Partisan Veljko Kadijevic (1988–1992), war kein Serbe, er war in Kroatien in der Nähe von Split geboren, stammte aus einer gemischten kroatisch-serbischen Familie und betrachtete sich selbst wie Millionen andere als »Jugoslawe«.
Nein, mit seiner Behauptung, Belgrad habe die Führung der jugoslawischen Armee in eine »völkisch gelenkte serbische Armee verwandelt«, hat sich Duve auf einen Holzweg begeben. Aber verzeihen wir ihm, Irren ist menschlich. Unverzeihlich aber ist, daß er erst jetzt, zwanzig Jahre nach dem Zerfall Jugoslawiens, in seinem Beitrag sein damaliges ungeheuerliches Wissen preisgibt, wonach im jugoslawischen Vielvölkerstaat ein schrecklicher Genozid geplant war. Wörtlich teilt er mit: »Ein weiterer Völkermord in Europa mußte verhindert werden. Ich hatte Informationen über diese Genozidplanung aus Belgrad: Slobodan Milosevic und andere Tito-Nachfolger hatten die völkische Vernichtungs-Propaganda geschürt und die Probleme des Post-Tito-Jugoslawiens völkisch ideologisiert – exakt nach Goebbels‘ Methoden.«
Aber hätte Duve seine schockierenden »Informationen« nicht früher öffentlich machen können? Warum mußte er damit zwei Jahrzehnte warten? Wieviel Leid wäre den jugoslawischen Völkern erspart worden? Mit welcher Kraft hätten sie sich mit diesem Wissen der Nachfolger Titos entledigt? Wie einig wäre die Front aller friedliebenden Völker und Staaten gegen die Genozidplaner in Belgrad gewesen? Spätestens das Haager Jugoslawientribunal und dessen Generalanklägerin Carla del Ponte wären ihm für diese Aussage mit Details und Quellenangabe überaus dankbar gewesen. Doch nein, er hat seine Kenntnisse für sich behalten. Die Gründe dafür bleiben rätselhaft, es sei denn der vorbildliche Wahrheitswächter hat sich mit der jetzt offenbarten »Information« ausnahmsweise eine kleine politische Lüge erlaubt. Niemand ist fehlerfrei, auch nicht Freimut Duve – der in seinem Beitrag übrigens mit keinem Wort auf den humanitären NATO-Krieg gegen Jugoslawien eingeht. Unter denen, die diesen Krieg herbeigelogen haben, war unser wackerer Wahrheitskämpfer einer der eifrigsten. Aber in einem Gewerkschaftsblatt hatte er nun Gelegenheit, seinem Vornamen Ehre zu machen.