erstellt mit easyCMS
Titel1911

Das schädliche Bündnis verlassen  (Franz Kersjes)

Die gegenwärtige Schwäche der deutschen Gewerkschaften besteht vor allem in dem untauglichen Versuch, Partner ihrer Gegner zu sein. Sie haben sich eingelassen auf eine Kooperation mit den Interessenvertretern des Kapitals in der Hoffnung, soziale und politische Nachteile für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu verhindern oder wenigstens zu begrenzen. Arbeitnehmervertreter und Unternehmer sehen sich oft nicht mehr als Klassengegner, sondern als ein Team, das an »einem Strang zieht« und »in einem Boot sitzt« und gemeinsam für das Wohl der Unternehmen verantwortlich sein sollte. Man trifft diese Art des Umgangs heute vor allem noch in Großbetrieben.

Wie die Sozialdemokratie ließen sich auch Gewerkschaften vom Neoliberalismus durchdringen. Bis tief in die eigenen Reihen wurde die Auffassung akzeptiert, Lohnzurückhaltung und Verzicht auf Tarifrechte würden Chancen für die Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen eröffnen.

Die Berater der rot-grünen Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder gaben die Empfehlung, den Konsens zwischen Kapitalinteressen und Arbeitnehmerinteressen durch soziale Pakte zu organisieren. Kapital und Arbeit als »Wettbewerbsgemeinschaft« sollten gemeinsam das »Marktrisiko« tragen.

Den Gewerkschaften wurde eingeredet, mit ihren »veralteten Positionen« hätten sie keine Erfolge mehr in der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit und würden weiter an Durchsetzungs- und Kampfkraft verlieren. Mitgliederverluste wurden als Beweis für die Erfolglosigkeit der Gewerkschaften gewertet. Die Spekulation richtete sich auf die Befürchtung in den Gewerkschaften, bei Nichtbeteiligung an Sozialpakten politisch marginalisiert zu werden. Als Entschädigung für die Bündnisbeteiligung wurde ihnen verheißen, an der Gestaltung der Gesellschaft weiterhin beteiligt zu sein – eine Art Überlebensgarantie.

Die konkreten Ergebnisse dieser Bündnispolitik sind für die Gewerkschaften eine Katastrophe.

Die Arbeitswelt hat sich in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren erheblich verändert. Gegen die totale Ökonomisierung unserer Gesellschaft hätte ein politischer Kampf aufgenommen werden müssen, den die Gewerkschaften unterließen, während die Konzerne und Unternehmerverbände unbeirrt ihre Ziele verfolgten: Tarifverträge und Gesetze zum Schutz der arbeitenden Menschen sollen ihre Verbindlichkeit verlieren, damit die Unternehmer die Beschäftigten den jeweiligen betrieblichen Bedürfnissen unterworfen können. Das bedeutet für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer: weniger Schutz, weniger Rechte, Einkommensverluste und oft menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, schlimmstenfalls Arbeitslosigkeit. Ende Dezember 2010 gab es insgesamt 6.467.632 »Hartz IV«-Leistungsbezieher. Die Aktionäre der 30 Dax-Konzerne hingegen bejubelten Anfang 2011 einen Anstieg der Profite um knapp 19 Milliarden Euro. Seit dem Jahr 2000 sind die Profite der Kapitalbesitzer um 36 Prozent gestiegen. Vermögenssteuer müssen sie nicht zahlen.

Die Ausbeutung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verstärkt sich in unerträglichem Maße. Der erpresserische Druck auf die Beschäftigten in den Betrieben, auf ihre Rechte zu verzichten, ist fast zum Regelfall geworden. Die Angst der Erwerbstätigen vor dem Verlust des Arbeitsplatzes lähmt oft jeden Widerspruch oder gar Widerstand. Laut einer Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung leisten in 84 Prozent der Betriebe die Beschäftigten erheblich mehr Arbeit als sie bezahlt bekommen. Würden sie vereinbarungsgemäß pünktlich Feierabend machen, müßten rund eine Million Arbeitskräfte zusätzlich eingestellt werden.

Frankreichs ehemalige Finanzministerin Christine Lagarde kritisierte vor einiger Zeit die deutsche Exportwirtschaft. Deutschland spare durch seine Lohnzurückhaltung und die dadurch gestiegene Produktivität seiner Industrie die europäische Konkurrenz kaputt. Die Bundesrepublik produziere fortdauernd Überschüsse in der Leistungsbilanz, was spiegelbildlich zu einem hohen Kapitalexport, leeren Geldbeuteln beschäftigter Arbeitnehmer und einem massiven Lohndruck in anderen EU-Staaten führe. Lagarde forderte, die Deutschen sollten endlich ihre Binnenkonjunktur ankurbeln, anstatt nur einseitig auf Export zu setzen. Ökonom Gustav Horn vom Forschungsinstitut IMK bekräftigte: »Die Kritik ist vollkommen gerechtfertigt. Mich wundert, daß sie nicht früher gekommen ist.« Deutschland habe viele Jahre einseitig auf den Export gesetzt, fügte er hinzu. »Und zwar auf einen Export, bei dem wir in Europa mit Billiglöhnen agiert haben.«

Die Arbeitskosten in Deutschland steigen seit Jahren langsamer als in anderen Ländern Europas. Zwischen 2000 und 2009 legten sie nur um durchschnittlich 1,9 Prozent pro Jahr zu. Im Durchschnitt des Euroraumes betrug das jährliche Plus hingegen 2,9 Prozent. Deutsche Unternehmen machten in den vergangenen Jahren satte Gewinne. Zeitarbeit, befristete Arbeit und andere atypische Beschäftigungsverhältnisse nehmen immer mehr zu. Nach Feststellungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) haben die Zeitarbeiter im Durchschnitt einen Lohnnachteil von 20 Prozent gegenüber der Stammbelegschaft. Jede zweite Neueinstellung ist befristet, vor zehn Jahren war es noch jede dritte. Für mehr als die Hälfte der Zeitarbeiter endet die Beschäftigung nach weniger als drei Monaten. Teilzeitbeschäftigung hat sich in den vergangenen 15 Jahren auf 8,7 Millionen Menschen verdoppelt. Zum Jahresende 2010 verzeichnete die Bundesagentur für Arbeit (BA) fast 7,4 Millionen Menschen mit einem Mini-Job bis 400 Euro monatlich. Deutschland ist in Europa auf dem Weg zu einem Billiglohnland!

Beschäftigungspolitisch hat sich die Zurückhaltung der deutschen Gewerkschaften nicht ausgezahlt. Ein Beispiel: Der Beschäftigungszuwachs des vergangenen Jahres ist vor allem auf die Zunahme der Zeitarbeit zurückzuführen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes stieg die Zahl der abhängig Beschäftigten um insgesamt 322.000. Bei 182.000 dieser Jobs habe es sich um Zeitarbeitsstellen gehandelt. Das entspreche einem Anteil von 57 Prozent. Zähle man auch befristete und geringfügig Beschäftigte sowie Teilzeitarbeit mit maximal 20 Wochenstunden hinzu, entfielen sogar mehr als drei Viertel des Anstiegs auf diese sogenannten atypischen Beschäftigungsformen.

Die vierte Hartz-Reform sollte arbeitsfähigen Bedürftigen schneller neue Arbeitsplätze verschaffen. Eine statistische Auswertung zeigt, daß das nicht funktioniert. Arbeitslose sind nach der Reform ebenso lange ohne Job wie zuvor.

Die tatsächlichen Arbeitseinkommen entwickelten sich deutlich schwächer als in allen anderen alten Ländern der Europäischen Union. Nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) sind die realen Nettolöhne innerhalb eines Jahrzehnts im Durchschnitt um 2,5 Prozent gesunken. Rund 1,3 Millionen Erwerbstätige erhalten von ihrem Unternehmer einen so geringen Lohn, daß sie auf gesetzliche Leistungen nach »Hartz IV« angewiesen sind. Die Zahl der tatsächlich Anspruchsberechtigten liegt weit höher. Der Niedriglohnsektor wurde von den Unternehmern seit vielen Jahren ausgeweitet und ist inzwischen der größte in Europa. Auch 11,1 Prozent der unbefristet Beschäftigten in sogenannten Normal-Arbeitsverhältnissen werden inzwischen für einen Niedriglohn beschäftigt. Immer häufiger werden Stammbelegschaften reduziert, und den entlassenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wird die Fortsetzung ihrer bisherigen Tätigkeit über eine Zeitarbeitsfirma zu wesentlich schlechteren Bedingungen angeboten. Die damit verbundenen Einkommensverluste führen zwangsläufig zu Einschränkungen des Lebensstandards und in die Altersarmut. Wer einmal in diesen Slum geraten ist, kommt kaum noch heraus.

Über viele Jahre orientierte sich die Tarifpolitik an der Produktivität. Es gab zwei Ziele: Verteilungsgerechtigkeit und Nachfragestabilisierung. Nach diesem Konzept sollen Unternehmen und Beschäftigte gleichermaßen an dem teilhaben, was im Lauf eines Jahres durchschnittlich zusätzlich erwirtschaftet worden ist. Produktivitätsorientierte Lohnpolitik bedeutet: Erhöhung der Nominallöhne und -gehälter um Preissteigerung + Produktivität. Das ist der verteilungsneutrale Spielraum. Wenn dieser Grundsatz befolgt wird, bleiben die Verteilungsverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit gleich (eine notwendige Umverteilung zu Gunsten der Beschäftigten unterbleibt).

Keiner der Lohn- und Gehaltstarifabschlüsse der vergangenen Jahre hat den Verteilungsspielraum ausgeschöpft. Selbst bei guter Konjunktur waren die Gewerkschaften nicht in der Lage, einen Wachstumsschub bei den tariflichen Einkommen zu bewirken. Und so ist der Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen zwischen 1993 und 2010 von 73 auf 64 Prozent gesunken. Im Verhältnis zu anderen europäischen Ländern wird auch seit Jahren kaum noch gestreikt. Legt man die offiziellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit zugrunde, liegt Deutschland am untersten Ende der Streikstatistik in Europa.

Seit Beginn der Weltfinanzkrise verzichteten Belegschaften sogar auf Lohn, um den Arbeitsplatz zu sichern. Viele mußten in Kurzarbeit gehen, andere überließen dem Unternehmen ihr Urlaubs- und/oder Weihnachtsgeld. In kaum einem Land haben die Beschäftigten mit ähnlich großer Lohnzurückhaltung reagiert. Die sogenannten Lohnnebenkosten stiegen in Deutschland nur um neun Prozent. Im gesamten Euroraum betrug das entsprechende Plus 33 Prozent. Zudem müssen Unternehmer heute 0,9 Prozent weniger als ihre Beschäftigten in die Gesetzliche Krankenversicherung einzahlen. Dank der gewerkschaftlichen Bescheidenheit in Deutschland verschafften sich deutsche Unternehmen Wettbewerbsvorteile auf Kosten anderer Euro-Länder verschafft. Gleichzeitig wurde die Binnennachfrage gebremst.

Die Gewerkschaften haben demokratische Satzungen. Wesentliche Entscheidungen müssen zuvor in den zuständigen gewerkschaftlichen Gremien und in der Mitgliedschaft beraten und diskutiert werden. Aber die Realität sieht nicht selten anders aus. So vereinbarten beispielsweise Frank Bsirske (ver.di), Berthold Huber (IG Metall), Michael Sommer (DGB) und die übrigen Bundesvorsitzenden der Einzelgewerkschaften im DGB eine gemeinsame Initiative mit der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) zur Tarifeinheit in den Betrieben – die so weit ging, daß das Streikrecht eingeschränkt werden sollte. Die zuständigen Gewerkschaftsvorstände wurden zu dieser Initiative zunächst nicht gefragt, auch nicht der DGB-Bundeskongreß, der gerade 14 Tage vor der Bekanntgabe der Vorstellungen zur Änderung des Tarifvertragsgesetzes stattgefunden hatte. Inzwischen wurde nach erheblichen Protesten vieler Gewerkschaftsmitglieder und Gremien diese gemeinsame Initiative mit den Unternehmerverbänden zurückgezogen. Aber der entstandene Schaden durch Verlust an Glaubwürdigkeit ist für die Gewerkschaften erheblich.

Es bleibt als Bilanz: Die gewerkschaftliche Politik eines Bündnisses mit den Unternehmen hat verheerende Folgen für die soziale Situation der Arbeitnehmerbevölkerung in der Bundesrepublik gezeitigt. Es ist an der Zeit, diesen »Pakt« zu kündigen.