erstellt mit easyCMS
Titel1912

Von Schurkenstaaten und Demokratien  (Volker Hermsdorf)

Wodurch unterscheidet sich ein fieser »diktatorischer Schurkenstaat« von einem Land, das sich »rechtsstaatlichen und demokratischen Grundsätzen« verpflichtet fühlt? Eifrige Konsumenten westlicher Leitmedien wissen das selbstverständlich und kennen auch Kriterien für deren Zuordnung. Dazu gehören vor allem die Respektierung und Anwendung grundlegender Werte wie Menschenrechte, Pressefreiheit, Rechtssicherheit und die Achtung internationaler Rechtsnormen. Bei den in Presse, Funk und Fernsehen beliebten Umfragen dürfte das Urteil der deutschen Durchschnittsbürger über Länder wie China, USA, Großbritannien und Schweden eindeutig ausfallen. Im Praxistest – dem sich die meinungsbildenden Umfragesendungen zu ihrem Glück nie stellen – geraten die klaren Positionen dann aber leicht durcheinander, wie zwei aktuelle Beispiele zeigen.

Am 22. April schaffte es ein blinder Mann auf mysteriöse Weise – vorbei an schwer bewaffneten eigenen und fremden Sicherheitskräften –, in eines der bestbewachten Gebäude der Welt zu gelangen. Der chinesische Systemgegner Chen Guangcheng hatte in der Botschaft der USA in Peking, in die er nur mit Kenntnis und Hilfe US-amerikanischer Diplomaten gekommen sein konnte, um Unterstützung gebeten, nachdem er zuvor aus dem gegen ihn verhängten Hausarrest in einer Provinzstadt entwichen war. »Ich will so schnell wie möglich ausreisen, wohin auch immer. Ich fühle mich überhaupt nicht sicher«, zitierte eine ARD-Korrespondentin Guangcheng. Die vorbehaltlose Sympathie aller westlichen Konzernmedien und der meisten Politiker war dem von ihnen zum »Menschenrechtsaktivisten« ernannten Dissidenten von Anfang an sicher.

Obwohl das chinesische Außenministerium formal gegen die »inakzeptable Einmischung« der USA in die »inneren Angelegenheiten Chinas« protestierte, konnte Guangcheng die US-Botschaft nach sechs Tagen als freier Mann verlassen, um sich in einem Krankenhaus der Hauptstadt behandeln zu lassen. Von dort nahm er telefonisch an einer längeren Anhörung im US-Kongreß teil und wiederholte seine Absicht, in die USA auszureisen, weil er in China nicht sicher sei. Obwohl ihm die Regierung in Peking einen Aufenthalt als »normaler Bürger« und sogar die Möglichkeit zur Aufnahme eines Studiums zugesichert hatte, verließ er Peking am 19. Mai mit Frau und Kindern in einer United-Airlines-Maschine mit Ziel New York. US-Außenministerin Hilary Clinton war erfreut über eine Lösung, »die seine Wahl und unsere Werte widerspiegelt«.

Selbst für treue Leitmedien-Konsumenten, die daran gewöhnt sind, daß für Systemgegner in China völlig andere Maßstäbe gelten als für kritische Aktivisten in der westlichen Welt, waren die von Clinton gelobten Werte von extrem kurzer Dauer. Denn genau einen Monat nachdem Guangcheng aus dem Land, in dem er sich nicht sicher fühlte, als freier Mensch ausgereist war, flüchtete Wikileaks-Gründer Julian Assange am 19. Juni in die ecuadorianische Botschaft in London. Assange fürchtete, bei einer geplanten Verhaftung und Überstellung nach Schweden von dort an die USA ausgeliefert zu werden, wo ihm ein unfaires Verfahren und die Todesstrafe oder lebenslange Haft drohen. Am 16. August gewährte ihm Ecuador politisches Asyl. Und plötzlich war alles ganz anders.

Die Internet-Plattform Wikileaks hatte in den vergangenen Jahren Informationen und Dokumente veröffentlicht, die die betroffenen Regierungen ihren Bürgern und der Weltöffentlichkeit gern weiterhin vorenthalten hätten. So wurde in der Videoaufnahme »Collateral Murder« das willkürliche brutale Abschlachten von Zivilisten in Bagdad aus einem Apache-Kampfhubschrauber der US-Army gezeigt. Viele andere Dokumente haben Details über das wahre Gesicht der Kriege im Irak und in Afghanistan ans Licht gebracht. Die Plattform enthüllte auch, »wie unsere Regierung andere Länder unter Druck setzte, damit sie Amts-träger der Bush-Ära nicht für Folter belangten und vieles mehr«, schreiben die US-Regisseure Oliver Stone und Michael Moore in einem Aufruf zur Unterstützung Assanges.

Die hat der Wikileaks-Gründer bitter nötig, weil die ständigen Verfechter von Menschenrechten und Pressefreiheit plötzlich von einer partiellen Amnesie befallen sind. Hohe Vertreter beider US-Parteien lobten ihn nicht für seine Aufklärungsarbeit und den Mut, Morde, Folterungen und andere von Regierungsmitgliedern und Militärs angeordnete, ausgeführte oder geduldete Verbrechen gegen die Menschlichkeit öffentlich zu machen, sondern nannten ihn einen »Hightech-Terroristen«. Die US-Senatorin Dianne Feinstein forderte als Vorsitzende des Geheimdienstausschusses im Senat, Assange nach dem Spionage-Gesetz anzuklagen.

Die noch einen Monat zuvor, als es um China ging, gebetsmühlenartig wiederholten Werte »Menschenrechte« und »Pressefreiheit« galten auch bei deutschen Politikern plötzlich als unanständig. Dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Volker Kauder, fiel zu Wikileaks nur der Satz ein: »Die Pressefreiheit ist ein hohes Gut, aber auch für sie gibt es Grenzen.« Der Jurist sitzt auch dem Rechtsausschuß des Bundestages vor, was ihn nicht davon abhielt, sich für eine weitere Einschränkung des Quellenschutzes einzusetzen. Es müsse möglich sein, »gegen die Verantwortlichen zu ermitteln und auch ›abschreckende Strafen‹ zu verhängen«, sagte Kauder laut Spiegel online. Von dem Fähnrich der Reserve ist vielleicht nichts anderes zu erwarten gewesen.

Doch auch die Regierungen von Großbritannien und Schweden, die in ihrer jeweiligen Region als »Mutterland der Demokratie« gelten, beteiligten sich an der Hexenjagd auf den Dissidenten und den Versuchen, seine Enthüllungsplattform auszuschalten. Der Außenminister des einst fortschrittlichen Schwedens, Carl Bildt, erklärte, daß sein Land nicht versprechen werde, den Wikileaks-Gründer auf keinen Fall an die USA auszuliefern. Die britische Regierung drohte gar mit Stürmung der Botschaft und Verhaftung Assanges auf dem Territorium Ecuadors, was nach Meinungsfreiheit und Pressefreiheit auch die Werte Rechtssicherheit und Achtung internationaler Rechtsnormen zu Makulatur machte.

Während US-Vertreter immer wieder behaupten, kein Interesse an einer Auslieferung zu haben, berichtete die australische Tageszeitung Sydney Morning Herald unter Berufung auf ihr vorliegende Dokumente, daß die USA seit Monaten alles versuchen, um Assange in ihre Hände zu bekommen und wegen Spionage anzuklagen. Um ihr Ziel zu erreichen, wird Ecuador mit der Drohung, ein für das Land wichtiges Handelsabkommen Anfang nächsten Jahres nicht zu verlängern, wirtschaftlich unter Druck gesetzt. Durch die Unvorsichtigkeit eines Londoner Polizisten wurde zudem eine Anweisung Scotland Yards bekannt, daß Assange »unter allen Umständen zu verhaften« und auszuliefern sei, wenn sich die Möglichkeit dazu bietet.

Obwohl Großbritannien – nach Druck der Staaten Lateinamerikas – von der angedrohten Erstürmung der Botschaft abgerückt ist, wird es Entwarnung und freies Geleit für Julian Assange auf längere Sicht nicht geben. Schließlich sitzt er nicht in einem Schurkenstaat, sondern in einem Land fest, in dem Menschenrechte, Pressefreiheit, Rechtssicherheit und die Achtung internationaler Rechtsnormen hohe Werte sind.