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Titel1912

Gedenken und Vergessen  (Kurt Pätzold)

Kein Jahr vergeht hierzulande, ohne daß in seinem Verlauf mehrerer als denkwürdig geltender Ereignisse früherer Zeiten gedacht wird. Soeben geschieht das ausdauernd mit Bezug auf den 300. Geburtstag eines Preußenkönigs, kürzer auch mit dem 100. Geburtstag Jorge Amados und mit Hermann Hesses 50. Todestag. Anderes erfuhr geringe Aufmerksamkeit. Beispielsweise Napoleons Kriegszug gegen das Zarenreich, der 200 Jahre zurückliegt, wiewohl sich mit ihm doch die Frage verbindet, wie das 19. Jahrhundert verlaufen wäre, hätte das Unternehmen für den Franzosenkaiser nicht das Vorspiel seines Endes dargestellt. Wir kommen auf den Mann jedoch spätestens 2013 und dann »bei Leipzig« wieder zu reden.

Scharen von Journalisten und Redakteuren fragen jeweils am Jahresbeginn: Welches Ereignis darf nicht vergessen werden? Früher schon prüfen Verlage, ob ein Datum nicht geeignet sei, ein Buch wieder aufzulegen oder ein neues herauszubringen, mit dem eine Person oder ein Geschehnis aus Natur- oder Menschheitsgeschichte Nachgeborenen und womöglich auch noch Zeitzeugen in die Gedächtnisse gerufen werden kann. Anspruchsvollere Kalendermacher durchforsten die Chroniken. Und Politiker lassen prüfen, wann sie sich durch eine Gedenkrede in Szene setzen können oder müssen.

Trotz dieses Wächtertums – manches wird schlicht vergessen. Und das häufig nicht als Folge von Gedächtnislücken, sondern weil es nicht so recht in die Zeiten, will sagen: in die Interessen derer passen will, die seine Anrufung berühren würde. Ein Beispiel? Am 1. Mai 2012 hätte sich, ohne daß dadurch dem traditionsbeladenen Tag Abbruch getan wäre, an den Beschluß zur Ergänzung eines Gesetzes erinnern lassen, den vor 75 Jahren – die gelten gemeinhin auch als besonders zu beachtender Abstand – die zuständigen Körperschaften in den USA faßten. Sie ergänzten die geltende Gesetzgebung der USA über die Neutralität des Staates. Bestimmt wurde von den Abgeordneten: »Wenn nach Ansicht des Präsidenten in einem auswärtigen Staat ein Bürgerkriegszustand besteht und dieser Bürgerkrieg einen Umfang hat oder unter solchen Bedingungen geführt wird, daß die Ausfuhr von Waffen, Munition oder Kriegsbedarf aus den Vereinigten Staaten nach solchen auswärtigen Staaten den Frieden der Vereinigten Staaten bedrohen oder gefährden würde, soll der Präsident diese Tatsache bekanntmachen; es ist dann verboten, Waffen, Munition oder Kriegsbedarf von irgendeinem Ort der Vereinigten Staaten nach einem solchen auswärtigen Staat oder zu dessen Gebrauch auszuführen, ihre Ausfuhr zu versuchen oder zu veranlassen.«

Der Satz hätte Heutige ins Nachdenken stürzen können – in ein in die Vergangenheit gerichtetes. Denn in ihren Auswirkungen traf diese Bestimmung die Verteidiger der spanischen Republik. Und ein die Gegenwart betreffendes. Das muß nicht sein. Die Menschen sind in unseren Zeiten ohnehin vielerorts schon dauerbeunruhigt. So galt das Prinzip: Schonung.