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Titel1912

Die verlorene Generation  (Christophe Zerpka)

Erinnert sich noch jemand an die 1970er Jahre? – Wer in der damaligen Bundesrepublik die Schule abschloß, dem stand die Welt offen. Wer sein Studium selbst finanzieren mußte, konnte sich die Studentenjobs aussuchen, das Studium ließ sogar Zeit für politische und andere Aktivitäten, und mit dem Begriff Arbeitslosigkeit konnte man nur wenig anfangen.

Stichwort Lebensplanung: Die Zukunft schien gesichert, ja, man konnte sich sogar eine Auszeit gönnen, bevor man in das Berufsleben einstieg. Selbst jene, die aus einfachen Verhältnissen kamen, konnten studieren, die Chancengleichheit war so hoch wie nie zuvor. Und vor allem dies: Es wäre einem nie in den Sinn gekommen, daß es irgendwann anders sein könnte.

Wer heute die Schule oder die Universität verläßt, kann sich kaum vorstellen, daß ›es‹ mal anders war. Das Ausbildungssystem, welches die heutige Generation durchläuft, ist auf Wirtschaftlichkeit und Effizienz getrimmt. Das Gymnasium führt nun schon nach acht Jahren zum Abitur, das spart viel Geld. Die Universitäten sind Fabriken mit Lernnachweisen im Wochentakt, die Studienzeit ist streng reglementiert, Hörsäle überfüllt. Gleichzeitig zieht sich der Staat immer mehr aus der Finanzierung des Bildungswesens zurück, Bildungsreform ist nur noch ein Synonym für Sparmaßnahmen.

Wenn aber einer all die Bildungshürden erfolgreich gemeistert hat (er sollte sich tunlichst weder politisch engagiert noch allzu viele Nebenjobs ausgeübt haben), dann beginnt ein nicht minder brutaler Bewerbungsmarathon, jene Reise nach Jerusalem, auf der freilich fast alle versprochenen Stühle fehlen. Stichwort Generation Praktikum: selbstverständlich nur vorübergehend, aber immerhin. Manchmal bekommt man sogar ein Taschengeld. Dann, das große Glück, eine Anstellung, leider nur befristet. Lebensplanung? Familie? Kinder gar? Mit jedem Jahr wird man um eine Illusion ärmer, wird man bescheidener in seinen Ansprüchen. Wir sind viele, zu viele? Alle werden gebraucht! Wirklich alle? Oder nur die Besten? Es beschleicht einen das beklemmende Gefühl, nicht gebraucht zu werden. Kürzere Schulzeit, immer längere Arbeitszeit, spätere Rente, dazu ein schier unglaublicher Produktionsfortschritt. Stichwort technische Revolution: Die hat man schon in den 1960er Jahren vorausgeträumt, freilich mit dem Versprechen auf viel mehr Urlaub und Freizeit. Aber von all dem profitiert nur der Anteilseigner. Und dennoch leben wir hier im Paradies. Muß wohl so sein, denn alle wollen herkommen. Nicht nur die jungen Afrikaner, welche unter Lebensgefahr das Mittelmeer überqueren. Neuerdings auch junge Griechen, Spanier, Portugiesen, Italiener. Gut ausgebildet, aber ohne Perspektive. Auch sie ahnen: Die Reise nach Jerusalem klappt nicht. – Irgendein Wirtschaftsfachmann hat es ausgesprochen: Für die Herstellung aller Güter einschließlich Dienstleistungen braucht man gerade mal ein Drittel der arbeitsfähigen Weltbevölkerung. Und der Rest? Mit durchfüttern? Das widerspräche dem Leistungsprinzip. Verhungern lassen? Dann verlöre man Konsumenten. Ist außerdem ethisch nicht vertretbar. Also wird das makabere Spiel weitergehen: So tun als ob. Jeder ist seines Glückes Schmied. Weltweit.

Das Glücksversprechen ist brüchig geworden, selbst in den kapitalistischen Kernländern. Man jubelt einem jugendlichen Milliardär wie Mark Zuckerberg zu. Die anderen 99,9 Prozent hatten leider keine zündende Facebook-Idee. Pech gehabt. Vielleicht braucht es wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern den Zwischenruf eines naiven Kindes: Wenn alle nur noch halb so viel arbeiten würden ... Aber das wäre wohl zu einfach, oder?

Im Mai 2011 erschien im Ossietzky-Verlag der Sonderdruck das »Manifest zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit«. Die Autoren Heinz-J. Bontrup und Mohssen Massarrat plädieren für eine 30-Stunden-Woche. 20 Seiten, 2 €